Von den Rändern her – Zu Forschungsverständnis und -praxis der grund_schule der künste der Universität der Künste Berlin
Abstract
Unterricht im Kontext ästhetischer und künstlerischer Bildung, so eine Ausgangsthese des Studiums des Faches Bildende Kunst für das Lehramt an Grundschulen der Universität der Künste Berlin (UdK Berlin), gelingt weniger durch die Anwendung von didaktischen Konzepten. Vielmehr muss Kunstunterricht, will er künstlerisch fördern, immer wieder aufs Neue entwickelt werden. Hierfür bedarf es einer forschenden Haltung, die sich zwischen einer im Rahmen der individuellen künstlerischen Entwicklung gewonnenen Aufmerksamkeit und einer theoriegebundenen Praxisreflexivität bewegt. Eine forschende Haltung bedeutet dabei »nicht nur, gewonnene Einblicke und Erkenntnisse in die Praxis zurückfließen zu lassen, sondern erfordert, sich selbst in einer Praxis zwischen Kunst und Forschung zu üben« (Winderlich 2009:247). Vor diesem Hintergrund ist an der UdK Berlin die grund_schule der künste (g_dk) als raumbezogenes Lehr- und Forschungsmodell an der Schnittstelle von Hochschule, Schule und Kulturinstitution entwickelt worden, in dessen Mittelpunkt Bildung in, mit und durch die Künste steht.
Forschungsverständnis und -praxis der g_dk werden im Folgenden über den Begriff der forschenden Haltung sowie über das Konzept der Forschungswerkstatt dargelegt und an einem beispielhaften Lehr- und Forschungssetting veranschaulicht.
Ich glaube, Voraussetzung ist eine bestimmte Haltung. Es klingt sehr simpel, vielleicht ist es das aber nicht. Haltung heißt hier Offenheit, heißt, man soll ohne Vorurteile in eine Situation gehen, in der die Kinder etwas machen.
Auch die Fähigkeit zu bewundern (…) (Pause, lacht), also nicht nur zu schauen, zu gucken, sondern zu bewundern, einmal nur zu staunen (…) also einfach nur, was man sieht, in sich reinfließen lassen (…) Und dann muss man das natürlich irgendwann bearbeiten, (…)
Nick Ash in einem Interview mit Ursula Rogg (April 2017)
Zur grund_schule der künste
Ziel des Lehr- und Forschungsmodells ist es, Studierende in ihrem Professionalisierungsprozess als zukünftige Kunstlehrer*innen zu begleiten und dabei ästhetische und künstlerische Bildungspraxis in Kooperation mit allen Akteur*innen theoriegebunden reflexiv zu entwickeln und im Hinblick auf ihre Bildungspotenziale zu untersuchen. Um dem Lehr- und Forschungsmodell buchstäblich Raum zu geben, wurden die Räume der g_dk in Kooperation mit Künstler*innen gestaltet. Dabei entstanden Raumlösungen, die Kindern eigene Orte und flexible Räume für ihre ästhetische und künstlerische Praxis bieten wie auch Studierende und Lehrende unterstützen, diese zu erforschen. Die Räume der grund_schule der künste wurden in Kooperation mit Olafur Eliasson und Judith Seng gestaltet. Um einen konstruktiven Kooperationsprozess zu initiieren, erhielten die Künstler*innen eine Liste von dem, was die Räume aus der Perspektive Bildung können sollten. Zum Beispiel sollten die Räume für die Kinder eigene Orte für Spiel und Experiment sowie für Gemeinschaft und Austausch bereithalten. Gleichzeitig sollten sie Studierenden und Lehrenden ermöglichen, an der Praxis der Kinder teilzuhaben, diese zu beobachten, ohne zum Voyeur zu werden (vgl. www.grundschulekunstbildung.de und www.udk-berlin.de >> grund_schule der künste).
Die g_dk ermöglicht in diesem Sinne sowohl Kindern, sich über ihre eigenen Weltzugänge jenseits von sozialer und kultureller Herkunft in den Künsten zu erproben, als auch Studierenden, an dieser ästhetischen und künstlerischen Bildungspraxis teilzuhaben. Für die Studierenden bedeutet dieses, dass sie, der jeweiligen Studienphase gemäß, im Bachelor- oder Masterstudiengang die Rolle der begleitend Beobachtenden oder die der Initiator*innen einnehmen. Auf diese Weise eröffnen sich den Studierenden neue Denk-Räume, Räume, in denen sie sich der eigenen künstlerischen Erfahrungen bewusst werden und gleichzeitig offen sind für das, was Kinder mitbringen an Fragen, Fantasie und Eigensinn.
Neben ihrem Atelierstudium, das den Kern des Studiums für das Fach Bildende Kunst an Grundschulen an der Universität der Künste Berlin ausmacht, absolvieren die Studierenden im Rahmen des Lehr- und Forschungsmodells ihre Module zur Ästhetischen Bildung wie auch zur Didaktik der Bildenden Kunst. Die Module zur Ästhetischen Bildung stellen eine reflexive Verbindung zwischen Kind und Kunst her, d. h. zwischen Bildungsprozessen in ihrer leiblich-sinnlichen und räumlich-situativen Dimension im Allgemeinen und künstlerischen Erfahrungen im Besonderen (vgl. Hölscher 2014:22). Über die fachdidaktische Domäne hinaus werden auf diese Weise bildungstheoretische Zusammenhänge aus ästhetisch-künstlerischer Perspektive in das Studium eingebunden und eine entsprechende forschende Haltung gefördert.
Forschende Haltung
Eine forschende Haltung ist hierbei als eine Fähigkeit zu verstehen, die mit Iris Nentwig-Gesemann bedeutet, »sich fragend und neugierig dem ›Fremden‹ und auch dem fraglos ›Funktionierenden‹ zu nähern, […], den forschenden Blick von theoretischem Wissen inspirieren zu lassen, das Erfahrene mit bereits gemachten Erfahrungen zugleich systematisch wie auch kreativ zu vergleichen, sich in ein kritisches wie auch reflexives Verhältnis zu sich selbst und der sozialen Situation setzen zu können und damit Prozesse des Erklärens und Verstehens zu vollziehen, die sich von denjenigen des Alltagshandelns und -denkens [der jeweiligen Profession] unterscheiden« (Nentwig-Gesemann 2007:20). Letztlich bricht eine forschende Haltung mit der »Illusion des unmittelbaren Verstehens« (Bourdieu/Waquant:280) – was sie in eine Nähe zur Kunst rückt.
Eingebunden in Seminare der Bachelor- und Masterlehramtsstudiengänge wird die Entwicklung einer forschenden Haltung unter Rückbindung auf die eigene künstlerische Erfahrung zwischen Bildungstheorie und Kindheitsforschung angebahnt.
Bereits die Seminarbezeichnungen des Bacheloreinführungsmoduls in die Ästhetische Bildung machen deutlich, zwischen welchen Koordinaten sich die zu erwerbende Fähigkeit einer forschenden Haltung bewegt: Ästhetische Erfahrung in der Kindheit im Kontext der Künste heißt das Basisseminar und Beobachten und Dokumentieren das Vertiefungsseminar. Das Studium basiert demnach auf zwei Annahmen, nämlich erstens der einer Nähe zwischen den Schaffensprozessen von Kindern und dem spezifisch künstlerischen Schaffen und zweitens der, dass es sich lohne, dieser nachzugehen. Darüber hinaus wird diesbezüglich bereits ein Forschungsverständnis angedeutet, das eine Nähe zur Ethnografie aufweist. Aus der Perspektive der Ethnografie, in deren Zentrum die Teilnehmende Beobachtung im Feld steht, kann das Einführungsmodul auch anders gelesen werden. Das Seminar, das darauf abzielt die ästhetischen Praktiken von Kindern mit zeitgenössischen künstlerischen Arbeitsweisen in einen Austausch zu bringen, kann auch als Konstituierung eines Forschungsfeldes verstanden werden, zu dem sich Studierende und Lehrende im Folgeseminar über Verfahren der Beobachtung und Dokumentation Zugänge verschaffen können.
Vor diesem Hintergrund werden für die Entwicklung einer forschenden Haltung folgende Fähigkeiten erworben:
- sich Zugänge zum Feld von Kunst und Bildung eröffnen bzw. dieses Feld immer wieder konstituieren,
- im Feld gerichtet wie auch ungerichtet wahrnehmen und beobachten,
- aus der eigenen Wahrnehmung heraus Fragen aufzeigen und diesen nachgehen,
- methodische Verfahren der Erhebung wie auch der Analyse der Daten entwickeln und dabei die der Profession eigene Bildexpertise einsetzen,
- die Ergebnisse der Analyse theoriegebunden reflektieren.
Die genannten Fähigkeiten werden im Masterstudium aufgebaut und vertieft. Dafür stehen drei Module zur Verfügung, in denen im ersten Aufbaumodul im Rahmen von Werkstätten die Studierenden die Möglichkeit erhalten, »ihre eigenen ästhetischen und künstlerischen Erfahrungen mit der Perspektive der ästhetischen Selbstbildung von Kindern zu verknüpfen und auf diese Weise ihre forschende Haltung zwischen Kind, Künsten und Bildung weiterzuentwickeln« (vgl. Universität der Künste Berlin 2015). Das folgende Beispiel bezieht sich entsprechend auf das erste Aufbaumodul und fokussiert die rezeptiven Fähigkeiten: Auf welche Weise können sich Kinder selbsttätig Zugänge zu Museen verschaffen? Und wie können sie dabei auf der auditiven Ebene unterstützt werden? Welche Rolle könnte dabei ein experimenteller Audioguide spielen? Diesen Fragen gingen beispielsweise Studierende gemeinsam mit Kindern im Rahmen einer Werkstatt nach und forschten sowohl aus der Perspektive ihrer eigenen künstlerischen Erfahrung als auch aus der Perspektive der den Kindern eigenen Weltzugängen nach Möglichkeiten (vgl. Rodenberg 2015). Die Reflexion dieser Erfahrungsprozesse wird studienbegleitend durch die Arbeit an Portfolios unterstützt. Mithilfe dieser haben die Studierenden die Möglichkeit, auch aus der Ich-Perspektive zu beschreiben und zu reflektieren. Mit Ausnahme dieser subjektiven Passagen, die auch über Bilder die Reflexion erweitern können, gelten dabei alle Regeln wissenschaftlichen Arbeitens.
Im zweiten Aufbaumodul setzen sich die Studierenden theoriegebunden mit Bildungskonzepten zu Ort, Raum und Material auseinander und entwickeln mithilfe ihrer forschenden Haltung konkrete Lernumgebungen und Bildungsräume (vgl. Universität der Bildenden Künste Berlin 2015). Die Analyse und Reflexion diesbezüglich erfolgt beispielsweise über fotografische Dokumentation oder über situationsgebundene Interviews (vgl. Fuhs 2000:95), in denen Studierende das Interview mit Kindern über deren ästhetische und künstlerische Erfahrungen direkt vor Ort bzw. im Raum des Geschehens führen. Im dritten Modul, einem Vertiefungsmodul, erhalten die Studierenden die Gelegenheit, im Rahmen eines selbst initiierten, durchgeführten sowie auszuwertenden Projektes ihre forschende Haltung zu vertiefen. Die Studierenden haben dabei die Wahl, das Projekt im Alltagsraum einer Schule oder mit den Kindern einer der kooperierenden Schulen im Modellraum der g_dk durchzuführen. Im Rahmen eines g_dk-Projektes lernten die Studierenden zum Beispiel Formen intermedialen Erzählens kennen, entwickelten im Anschluss eigene Inszenierungsformate und erprobten diese mit Kindern im Rahmen der jährlich stattfindenden Crescendino-Konzerte. Die Auswertung erfolgte über ein kon-kollegiales Beobachten der Studierenden und entsprechende Feedbacks (vgl. Rodenberg 2017). Das Vertiefungsmodul kann darüber hinaus als konkrete Vorbereitung der darauffolgenden Masterarbeit, die an der UdK Berlin in den Fachgebieten der Ästhetischen Bildung oder der Didaktik der Bildenden Kunst geschrieben werden muss, genutzt werden (vgl. Beitrag Henrike Alsleben in dieser Publikation). Konkret bedeutet dies, dass aus den Erfahrungen der Initiierung und Durchführung des Projektes Fragestellungen entwickelt werden, die den Anstoß für eine Masterarbeitsthese geben können. Des Weiteren haben die Studierenden die Möglichkeit, im Rahmen des Vertiefungsmoduls neben der konkreten Durchführung eines eigenen Projektes auch Forschungsmaterial zu sichern, das in der anschließenden Masterarbeit aufbereitet und ausgewertet wird.
Zusammenfassend wird eine forschende Haltung über die Auseinandersetzung mit entsprechenden Forschungsmethoden im Studium auf drei Ebenen angebahnt und entwickelt:
- der Ebene der Entwicklung einer künstlerischen Bildungspraxis in Form ästhetischer sowie künstlerischer Forschung,
- der Ebene der reflexiven und theoriegebundenen Durchdringung der initiierten Praxis in Form von Praxisforschung,
- der Ebene der wissenschaftlichen Erforschung ästhetischer und künstlerischer Bildungspraxis.
Um eine forschende Haltung im oben dargelegten Sinne umfassend und in Verknüpfung der genannten Ebenen zu fördern, sind Studium und Lehre als Forschungswerkstatt konzipiert, zu deren Verständnis im Folgenden weiter ausgeführt wird.
Forschungswerkstatt
Forschungswerkstätten, die als Format im Rahmen qualitativer Sozial- und Bildungsforschung entwickelt wurden, bieten dem Subjekt einen angemessenen Rahmen, sich zu artikulieren und in den Forschungsprozess einzubringen. Verbunden mit dem Format der Forschungswerkstatt ist auch eine Haltung, die das Subjekt nicht als Forschungsgegenstand, sondern vielmehr als Gegenüber betrachtet und ernst nimmt, mit dem man im Hinblick auf eine spezifische Fragestellung im Gespräch ist (vgl. Faulstich 2014:21 f.). Im Bild gesprochen ist unter einer Forschungswerkstatt ein offener Raum zu verstehen, in dem sich die verschiedenen Akteur*innen eines Forschungsprojektes oder eines gemeinsamen Forschungsinteresses versammeln, ihre Perspektiven austauschen und gemeinsam arbeiten. Dabei ist die Zusammenarbeit der Akteure im Sinne Sennetts (2012) als gegenseitige Anerkennung der jeweiligen Expertise zu verstehen – fähig, die je andere Sicht zu nutzen und entsprechend produktiv zu machen. Eine Forschungswerkstatt bietet demnach einen sozialen Rahmen, der ein kooperatives Forschen mit heterogen zusammen gesetzten Gruppen unterstützt (vgl. Riemann 2006:68 f.).
Im Kontext ästhetischer und künstlerischer Bildung, deren maßgeblicher Movens auch das Unwägbare und Unvorhersehbare sind, erscheinen Forschungsgegenstand wie auch das Feld der Forschung nicht immer offensichtlich und greifbar, sondern erfordern ihre Konstituierung. Dieses bedeutet, dass die Forschungswerkstatt so angelegt ist, dass entsprechende Bildungsprozesse überhaupt erst ermöglicht und dadurch auch beobachtbar und beschreibbar werden (vgl. Winderlich 2013a: 170). In der g_dk geschieht dieses, wie oben bereits beschrieben, über die Partizipation von Kindern aus Berliner Grundschulen, eine ästhetisch reflektierte Gestaltung des Raumes bzw. über Interventionen im Raum.
Die Vorschläge für Forschungsgegenstand und -fragen werden insbesondere in den Bachelormodulen für die Didaktik der Bildenden Kunst wie für die Ästhetische Bildung von den Lehrenden im Rahmen des Lehrangebotes eingebracht. Es handelt sich hierbei häufig um eigene Forschungsprojekte der Lehrenden, an denen Studierende mitwirken und auf diese Weise forschen lernen können. Insbesondere im Masterstudium, im Praxissemester sowie im Vertiefungsmodul für Ästhetische Bildung sind die Studierenden dann gefordert, eigene Fragestellungen zu entwickeln. Das Format der oben dargelegten Forschungswerkstatt ist an dieser Stelle als fachliche Begleitung durch die Lehrenden und als Austausch für die Studierenden untereinander zu verstehen.
Über die Möglichkeit, sich kontinuierlich mit eigenen Fragen und Themen in das Studium einzubringen, entwickeln die Studierenden Forschungsinteressen: Eine Studentin fragt beispielsweise seit ihrem Bachelorstudium, wie man mit Kindern ins Gespräch über Kunst kommen kann. Unabhängig davon, dass es zum Sprechen mit Kindern über Kunst ein breites Spektrum an Literatur gibt, geht es der Studentin darum, eine entsprechende Praxis aus der eigenen künstlerischen Erfahrung heraus und unter Berücksichtigung ihrer Beobachtungen zum Sprechen von Kindern im Museum zu entwickeln. Sie fragt in diesem Zusammenhang, inwieweit sich Kinder über ein Plaudern mit Kunst eigene Zugänge verschaffen können (vgl. Topan 2017). Im Praxissemester im Masterstudiengang hat sie diesbezüglich praktische Versuche mit einer Grundschulklasse durchgeführt, ihre Erfahrungen in einem eigens für ihre Fragestellung entwickelten Projekt im Rahmen des Vertiefungsmoduls hinterfragt und schließlich in der Masterarbeit wissenschaftlich bearbeitet.
Forschungswerkstatt Artist-in-Residence – Das Forschen der Künstler*innen, der Studierenden und der Lehrenden
Das Artist-in-Residence-Projekt der g_dk, welches zurückgeht auf ein Forschungsvorhaben von Nick Ash (vgl. Ash 2016), steht exemplarisch für die Verzahnung von künstlerischer Forschung, Praxisforschung sowie wissenschaftlicher Forschung. Es ist als Forschungswerkstatt in die Bachelormodule für die Didaktik der Bildenden Kunst sowie die Ästhetische Bildung, insbesondere in das Seminar Beobachten und Dokumentieren, eingebunden. Im Rahmen dieser Forschungswerkstatt kooperieren Lehrende, Studierende, Künstler*innen und Kinder. Alle Beteiligten forschen dabei auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichen Arbeitsweisen, Methoden und Fokussierungen.
Der Forschungswerkstatt liegt Bernhard Waldenfels’ Erfahrungsbegriff zugrunde, der besagt, dass Erfahrung als Erfahrungsereignis weniger ein gesichertes Ergebnis nach sich zieht, als vielmehr bedeutet, etwas durchzumachen (vgl. Waldenfels 1997:19). In diesem Zusammenhang ist auch sein Begriff von den Künsten zu verstehen, der die Künste als nicht endende Genese »aus dem Spiel, der Widersetzlichkeit und der Antwortkraft der Sinne« (Waldenfels 1999:14) begreift. An dieses Verständnis anknüpfend, ist es auf der Ebene der ästhetischen und künstlerischen Bildungspraxis Ziel, Möglichkeiten der individuellen Förderung im Hinblick auf einen experimentellen Umgang mit Material und Raum zu finden und zu erproben. »Wir wollten ein für experimentelle Veränderungen offenes Labor schaffen, das uns ermöglichte, zu beobachten, wie das künstlerische Schaffen der Kinder sich durch die wechselnden Kulissen verändert und entwickelt« (Ash 2016:23) und Bedeutung erfährt (vgl. Abb. 1).
Ebene Künstlerische Forschung
Um das künstlerische Schaffen der Kinder überhaupt beobachtbar und fassbar zu machen, konstituieren die beteiligten Künstler*innen das Feld, indem sie das Atelier der g_dk in einen Möglichkeitsraum für die künstlerische Praxis von Kindern transformieren (vgl. Abb. 2–4). Dabei antizipieren sie ästhetische Interessen, Erfahrungen und Praktiken der Kinder und regen deren Erweiterung durch für die Kinder ungewohnte und neue Materialangebote in Form von Installationen und Interventionen an. Die Künstlerin Merle Richter beschreibt fasziniert, was diese Setzungen mit Kindern aus der altersgemischten Lerngruppe (Jahrgangsstufe 2–4) bewirken: »[…] Es war, als ob ein Wirbelsturm durchgefegt wäre. Mit Energie und Interesse hatten sie den Raum zerlegt, nichts blieb unberührt. Sie hatten Materialien verwendet, die ich extra zur Seite geräumt hatte, das Klebeband, gedacht für mehrere Sessions, war auf’s Mal aufgebraucht […]. Sicher ist es mir in meinem eigenen künstlerischen Prozess nicht fremd, Dinge nicht nach der für sie vorgesehenen Funktion zu betrachten. Aus der organisatorischen Perspektive, die ich eingenommen hatte, war ich hierfür jedoch ignorant gewesen. Scheren, Schnur, Klebeband wurden umfunktioniert, wurden Teil der großen, kollektiven Raumskulptur […] An diesem Tag habe ich den Raum, die materiellen Hinterlassenschaften des Prozesses ihrer Auseinandersetzung bis in alle Details studiert. […] Ich gewann den Eindruck, dass es für diese Kinder vor allem darum ging sich selbst in Relation und im Verhältnis zu einem Außen zu erproben, zu erleben und zu bilden. In den kommenden Sessions zeigte sich eine Heterogenität an Tätigkeiten und Erfahrungsmöglichkeiten. Die Kinder bauten gegenständliche und abstrakte Objekte, Kostüme, begannen ein Theaterstück zu entwickeln. Als Struktur hatte ich eingeführt, dass jedes Kind bei jeder Session ein Foto macht. Ich druckte diese für sie aus und klebte sie in ein Buch, damit sie sie beim nächsten Mal betrachten konnten. Ausgehend von einer Fülle von Schnappschüssen zu Beginn, kamen sie über die Zeit zu einer immer fokussierteren Darstellung von Objekten, Gesten etc. Durch die Regel zum Fotografieren wurde ein Reflexionsinstrument geschaffen, […]« (Richter 2016:86); (Abb. 1-3).
Die Ausführungen der Künstlerin machen deutlich, dass ihre forschende Haltung von Intuition, Imagination sowie Zugängen zu den Kindern wie auch zu ihren Arbeiten in Form künstlerischer Arbeitsweisen geprägt ist. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass die Künstlerin durch die Einführung des Fotografierens eine Form der künstlerischen Forschung und damit eine Möglichkeit der Intensivierung und Weiterentwicklung ihres Arbeitsprozesses ermöglicht.
Ebene Praxisforschung
Anders als die beteiligten Künstler*innen und Kinder im Artist-in-Residence-Projekt, suchen die Studierenden systematischere Zugänge zum Feld und Geschehen vor Ort, die sich gleichzeitig zur Reflexion auf der Metaebene eignen. Der entsprechende Praxisforschungspart der Studierenden bedeutet in diesem Beispiel, Möglichkeiten der Aufzeichnung von Prozessen und entstandenen Artefakten zu erproben sowie theoriegebunden zu reflektieren (vgl. Winderlich 2016).
Eine Studentin fertigte in diesem Zusammenhang beispielsweise über drei Semester neben Feldnotizen, in denen sie primär ihre unmittelbaren Eindrücke und Erlebnisse ungefiltert aufzeichnete, gerichtete Beobachtungsprotokolle an. Mithilfe der ethnografischen Strategien »Wiederholung« sowie »Fokussierung« (vgl. Breidenstein u. a. 2015) intensivierte die Studentin dabei ihre Beobachtung. Sie nahm zum einen eine Wiederholung der Beobachtung des Artist-in-Residence-Projektes unter Berücksichtigung der Variante Material vor, zum anderen fokussierte sie die Handlungen der Kinder unter besonderer Berücksichtigung eines Zuwachses an ästhetischen Erfahrungen (vgl. Kolarczyk 2016). In der anschließenden Auseinandersetzung mit den angewendeten Beobachtungsverfahren konnte die Studentin erkennen, inwieweit die genannten Verfahren der Wiederholung und Fokussierung zu unterschiedlichen Ergebnissen und Einschätzungen der beobachteten Situationen führen können. So standen in den ungerichteten Feldnotizen der Studentin stärker die Künstler*innen-Persönlichkeit sowie das Verhalten der Kinder in Form von Reaktionen auf diese und deren subjektiver Bewertung im Mittelpunkt. Im Gegensatz dazu beschrieben die gerichteten Protokolle mithilfe der Fokussierung ein Spektrum der initiierten ästhetischen Handlungen der Kinder ohne Wertung. Über eine Reflexion der genannten Beobachtungsverfahren und ihrer Ergebnisse im Seminar konnten die Studierenden an einem konkreten Beispiel lernen, inwieweit eine gerichtete Beobachtung mit Fokussierung die Aufmerksamkeit für Phänomene jenseits der subjektiven Vorlieben und Interessen und der damit verbundenen vorschnellen (Be)Wertungen sensibilisiert und auf diese Weise für Überraschungen öffnet. Eine in der ethnografischen Datenanalyse wichtige Anforderung und Fähigkeit ist in dieser Hinsicht der Aspekt, sich von Daten überraschen zu lassen (vgl. Breidenstein u. a. 2015:121 f.). Dies verlangt, «die eigenen Erwartungen an das dokumentierte soziale [und ästhetische] Geschehen aktiv so zu manipulieren, dass die Wahrscheinlichkeiten für Überraschungen erhöht werden« (ebd.:121).
Ebene Wissenschaftliche Forschung
Diese Ebene nimmt Nick Ash im Rahmen seines wissenschaftlichen Forschungsprojektes u.a. mithilfe der fotografischen Dokumentation der Artefakte ein. Er tut dieses, indem er die im Feld entdeckten Artefakte fotografisch aus dem Raumgeschehen seziert und in ihrer vom Raum losgelösten Eigenständigkeit zum Erscheinen bringt.
Im Hinblick auf die Auswertung der erhobenen Daten zeigten sich bemerkenswerterweise Kongruenzen zwischen den Beobachtungen der Studentin und der fotografischen Aufzeichnung der Artefakte des Lehrenden in Bezug auf die Verbindung von Materialien. In den Protokollen der Studentin wie auch in der fotografischen Dokumentation der Artefakte wird deutlich, »dass die Kinder Formen und Materialien auf erfinderische Weise nutzten und manipulierten, besonders dann, wenn zwei verschiedene Materialtypen miteinander kombiniert wurden« (Ash 2016:29). Aktuell findet auf der Ebene der wissenschaftlichen Erforschung der initiierten ästhetischen und künstlerischen Bildungspraxis eine Aufbereitung und Analyse der erhobenen Daten statt. Dabei erfolgt mithilfe der typologischen sowie phänomenologischen Analyse (vgl. Winderlich 2013b) eine Auswertung und Beschreibung der ästhetischen Qualität der fotografisch dokumentierten Artefakte der Kinder. Im Mittelpunkt stehen dabei die Auswahl und der Umgang mit dem Material durch die Kinder sowie die Art und Weise des Zusammenbringens von Material, d. h. ihre ästhetischen Handlungen (Abb. 8). Unterschieden werden diesbezüglich jeweils die beobachtbaren Eigenschaftspaare, wie mono und pluri, additiv und subtraktiv, funktionstreu und funktionsfremd u.ä. Sie werden im Hinblick auf den Aspekt überraschend phänomenologisch geordnet.
Professionalisierung Kind, Kunst und Bildung
Die beispielhaft ausgeführten Forschungsebenen im Bachelorstudium lassen sich im Rahmen des Curriculums der g_dk auch auf andere Projekte übertragen. Bezieht sich das Artist-in-Residence-Projekt eher auf das Atelier als Ort künstlerischer Schaffensprozesse, sind darüber hinaus u. a. das Museum oder der öffentliche Raum als Orte der Begegnung mit Kunst und Kultur in den Studienordnungen verankert. Steht im Bachelorstudiengang, wie über das Artist-in-Residence-Projekt beschrieben, für die Studierenden die Anbahnung einer forschenden Haltung im Sinne einer Ebnung von Zugängen zum Feld über Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren im Mittelpunkt, wird im Masterstudiengang die Fähigkeit, ein Forschungsfeld konstituieren zu können, relevant. Um diese Fähigkeit zu entwickeln, benötigen die Studierenden bereits Kenntnisse hinsichtlich der individuellen Weltzugangsweisen von Kindern bzw. müssen die Studierenden in der Lage sein, die eigene forschende Haltung mit aktuellen Erkenntnissen aus der Kindheitsforschung zu untermauern. Des Weiteren wird insbesondere im Vertiefungsmodul unmittelbar vor der Masterarbeit von den Studierenden gefordert, Forschungsmethoden zur Analyse der initiierten Bildungsprozesse auch jenseits der im Bachelorstudiengang über die Lehrenden angeleiteten Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren selbstständig auszuwählen, gegebenenfalls zu entwickeln sowie fachgerecht einzusetzen. Unabhängig vom Studiengang bleibt die Fähigkeit, scheinbar Bekanntes zu fokussieren und in diesem Neues zu entdecken, für die Entwicklung einer forschenden Haltung im Rahmen der g_dk tragend und unerlässlich (vgl. Rumpf 1991).