Auf dem Weg zu einer Erforschung der Praxis der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht. Eine Skizze anhand ausgewählter Beispiele
Abstract
Im Artikel wird der Weg zu einer Erforschung der Praxis der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht skizziert. Diese praxeologische Perspektive reagiert auf den Umstand, dass die bisherige Forschung in erster Linie die Theorie der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht behandelt und dabei die Praxis nicht systematisch bedacht hat. Doch wissenschaftliche Theorien und die schulische Praxis unterscheiden sich grundlegend, was in Bezug auf die drei Kategorien Selbstreflexion, Komplexität und Zeit herausgearbeitet wird. Anhand dieser Aspekte werden erste Schritte einer Theorie der Praxis der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht formuliert, die es zugleich erlauben, diese Praxis genauer zu bestimmen. Denn über die Berücksichtigung allgemeiner Theorieelemente der Praxis können die Dokumente identifiziert werden, die über die spezielle Praxis der Bilderschließung in der Schule Auskunft geben. Zu diesen Dokumenten gehören schuleigene Schemata und Internetangebote zur Bilderschließung, Schulbücher und Abiture. Es wird gezeigt, dass die Grundstruktur der Praxis der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht im Dreischritt Beschreibung, Analyse und Interpretation des Bildes besteht. Am Beispiel des hessischen Kerncurriculums wird ausblickhaft verdeutlicht, wie eine Weiterarbeit an dieser Problemstellung konkret aussehen könnte.
Es spricht vieles dafür, der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht große Aufmerksamkeit zu schenken, denn: In einer Gesellschaft, die von Bildern durchdrungen ist, bedarf es zunehmend der Fähigkeit, auf kritische Distanz zu dieser Bilderflut gehen zu können, also Bilder in ihren machtvollen Eigenarten zu durchschauen, sprachlich zu erschließen und damit (be)greifbar zu machen. Diesem Umstand wird mittlerweile in der Forschung, unter Begriffen wie der Bildkritik oder der Bildwissenschaft, weiträumig Rechnung getragen (siehe etwa Maar/Burda 2005, Sachs-Hombach 2005). In erster Linie vonseiten der Kunstpädagogik ist eine wichtige Spezifizierung zu konstatieren, die in den anderen bildbezogenen Forschungen meist nicht bedacht wird, nämlich, dass die Grundlagen im Umgang mit Bildern dort gelegt werden, wo Kinder zum ersten Mal verpflichtet werden, über einen längeren Zeitraum regelmäßig mit Bildern in Kontakt zu kommen und sich intensiv mit diesen auseinanderzusetzen, nämlich im schulischen Kunstunterricht. Was hier gelehrt und gelernt wird, prägt jede Person, die den Kunstunterricht besucht, nachhaltig. Dabei beschränkt sich der folgende Beitrag auf die sprachliche Bilderschließung im Gegensatz zur künstlerischen Bildgestaltung (vgl. zu dieser Unterscheidung Kerncurriculum gymnasiale Oberstufe Kunst o.J.:11).
Das Problem lässt sich in folgender These formulieren: Obgleich die kunstpädagogische Forschung eine enorme Vielfalt an Theorien zur Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht entwickelt hat, wird dabei die Praxis der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht vernachlässigt, das heißt von den Theorien nicht systematisch erfasst und berücksichtigt, so dass sich Forschung und schulische Praxis eher gegenüberstehen als fruchtbar zu interagieren. Ziel wird es daher sein, zunächst das Problem herauszuarbeiten, um dann mögliche Lösungen anzubieten, die sowohl die kunstpädagogische Forschung im Sinn einer Theorie der Praxis der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht – anstelle der bisherigen Theorien der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht – wie sich in Anlehnung an den Titel von Pierre Bourdieus Hauptwerk, Entwurf einer Theorie der Praxis, formulieren lässt (Bourdieu 2009), als auch die Unterrichtspraxis, also die konkrete Arbeit mit den Schüler*innen, voranzubringen. Dass dabei nur exemplarisch vorgegangen werden kann, versteht sich bei der Weite des Problems von selbst.
Das Problem allgemein: Zum Unterschied von wissenschaftlicher Theorie und schulischer Praxis
Die bisherige kunstpädagogische Forschung zur Bilderschließung zeichnet sich durch eine große Vielfalt aus. Ihr gelingt es, eine enorme Breite an Aspekten des Bildes, wie etwa das „Bild“ selbst, den „Autor“ und dessen Bildkompetenz, die „Bildsituation“, das „Bildhandeln“, den „Bildumgang“ sowie „noch offene Bildkategorie(n)“, systematisch zu berücksichtigen (Sowa/Uhlig 2006:93f.). Offen bleibt dabei jedoch der Bezug zur schulischen Praxis, das heißt, dass diese in der Theoriebildung nicht berücksichtigt wird (vgl. etwa aus der Kunstgeschichte: Brassat/Kohle 2009, Imorde/Loffredo/Zeising 2018, Krüger/Kranhold 2018, Welzel 2010 sowie darauf z.T. aufbauend aus der Kunstpädagogik: Busse 2016, Schmidt-Maiwald 2016, Sowa 2014/2016, Visual Literacy – Strukturmodell 2016).
Um zu zeigen, dass die Umgangsweise der bisherigen kunstpädagogischen Forschung zur Bilderschließung mit der schulischen Praxis ein Problem darstellt, muss angegeben werden, worin sich die wissenschaftlichen Theorien der Forschung und die Schulpraxis unterscheiden, worin also die Theorien an der Erfassung der Praxis vorbeigehen, wenn sie deren Eigenarten nicht berücksichtigt. Deutlich wird der Unterschied von wissenschaftlicher Theorie und schulischer Praxis am Praxisschock, den junge Lehrer*innen häufig erfahren, wenn sie vom Studium in den Lehrberuf wechseln: „Der Praxisschock gilt als Zusammenbruch der Ideale oder Erwartungen, welche während des Studiums entwickelt wurden, nach den ersten Erfahrungen mit der Schulwirklichkeit“ (Dicke u.a. 2016:246). Dieser Schock ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die Schulpraxis in der bisherigen Theoriebildung nicht adäquat berücksichtigt wird.
Um den Unterschied zwischen wissenschaftlicher Theorie und schulischer Praxis genauer zu fassen und damit Spezifika der Praxis herauszustellen, die von der kunstpädagogischen Theorie zu berücksichtigen sind, werden im Folgenden drei Aspekte unter Einnahme einer praxeologische Perspektive näher ausgeführt: die Selbstreflexion, die Komplexität und die Zeit.
Selbstreflexion in wissenschaftlicher Theorie und schulischer Praxis
Der Selbstreflexion, etwa in Bezug auf das für die Schule gewählte Material (vgl. Sowa 2014:4) oder in Bezug auf das Lernen selbst (vgl. Visual Literacy – Strukturmodell 2016:112), wird in der kunstpädagogischen Forschung eine große Bedeutung zugeschrieben. Dies ist kein Zufall, insofern es sich um einen wesentlichen Bestanteil jeder Wissenschaft handelt. Nur wenn klar ist, wie und warum man etwas tut, kann das Tun von einem selbst und anderen bestmöglich nachvollzogen und damit überprüft werden – hierdurch erhalten Überlegungen den Status der Objektivität. Maximale Nachvollziehbarkeit und Transparenz sind Grundsteine der Wissenschaft (vgl. etwa DFG 2019:14f.).
In der Praxis verhält es sich genau umgekehrt: die Selbstreflexion stellt keinen Wert, sondern vielmehr einen Unwert dar. Was alleine interessiert, ist der Umstand, dass eine Sache funktioniert. Das Wie? und das Warum? spielen dabei eine untergeordnete Rolle und sind eher hinderlich – solange es zu keinen Problemen kommt. Dies lässt sich mit Thomas Fuchs folgendermaßen erklären: „Die Explikation führt […] zur Entfremdung des Vertrauten und zur Störung des Gewohnten“ (Fuchs 2008:267). Zur Veranschaulichung führt Fuchs einige Beispiele an: „Konzentriert sich ein Pianist auf seine einzelnen Finger, so wird er sich leicht verspielen; wer beim schnellen Treppenlaufen auf die einzelnen Stufen achtet, riskiert zu stolpern“ (ebd.). Vergleichbare Beispiele praktischer Automatismen nennt auch Bourdieu aus dem Bereich des Sports – etwa, dass ein Spieler „natürlich [genau dort] steht, wo der Ball hinkommt“ –, um die Eigentümlichkeit der Praxis, den „Spiel-Sinn“ zu verdeutlichen (Bourdieu 1992:84). Aus dem Bereich der Schule lässt sich dies beispielsweise daran erkennen, dass die Kunstabiture der meisten Bundesländer (die Ausnahmen sind: BW, BY und NRW), also eine zentraler Bestandteil der Praxis, der Wissenschaft nicht zur Verfügung gestellt werden – die Praxis scheut die Reflexion und begnügt sich damit, dass ein Procedere funktioniert (vgl. zu diesem Mechanismus im Bereich der Universität Bourdieu 1988:31–38).
Dass die Selbstreflexion für die Praxis, im Unterschied zur wissenschaftlichen Theorie, keinen Wert darstellt, bedeutet jedoch nicht, dass es unmöglich ist, dass die Praxis sich selbst reflektiert (vgl. Fuchs 2008:266), sondern nur, dass die Praxis dies nicht von selbst tun wird. Umso wichtiger ist es, auf diese Zusammenhänge aufmerksam zu machen, das heißt, die Praxis und ihre Eigenarten in den Blick zu nehmen, um eine angemessene wissenschaftliche Theorie der schulischen Praxis der Bilderschließung, hier in Bezug auf die Selbstreflexion, zu formulieren.
Komplexität in wissenschaftlicher Theorie und schulischer Praxis
In der kunstpädagogischen Forschung wird die Komplexität von Theorien zur Bilderschließung oft positiv hervorgehoben (vgl. etwa Kirchner 2008:161). Komplexität scheint somit ein weiterer Wert der wissenschaftlichen Theorie zu sein, der auch durch die Selbstreflexion erzeugt wird – etwas zu tun und es dabei zu reflektieren, ist ein komplexerer Vorgang als etwas nur zu tun. Für die Praxis ist der Einwand zu beachten, dass nämlich die Ansätze der Kunstwissenschaft zu aufwändig für Schüler*innen und Lehrer*innen sind und diese überfordern (vgl. Schmidt-Maiwald 2016:2). In der schulischen Praxis gilt also, dass Komplexität zu vermeiden ist, damit eine Sache gut funktioniert. Hans Ulrich Gumbrecht hat dies als allgemeine Regel prägnant formuliert, als er auf die Frage nach der Aufgabe der Universität als Ort der Wissenschaft eingeht:
„Die beste mir bekannte Antwort liegt in einem (bezeichnenderweise?) selten ins Gespräch gebrachten Gedanken von Niklas Luhmann. Er hat sich die Universität als ein soziales System ‚zweiter Ordnung‘ vorgestellt, als ein System, dessen spezifische Aufgabe – im Gegensatz zur Umweltkomplexitätsreduktion aller anderen sozialen Systeme – gerade in der Produktion von Komplexität liegen sollte. Anders gesagt: Spezialisten der Praxis finden Lösungen und reduzieren so Komplexität, während es das neue Selbstverständnis der Universität und der Intellektuellen werden könnte, potentielle Alternativen und Gegenmodelle zu den je institutionalisierten Weltdeutungen und Praxisformen zu produzieren, ‚auf Vorrat‘ sozusagen und orientiert am Prinzip des ‚gegenintuitiven‘ Denkens“ (Gumbrecht 2002:144).
Fragt man danach, warum wissenschaftliche Theorien komplex sein sollen, so kann neben dem soeben betonten Aufzeigen von Gegenmodellen zu institutionalisierten Haltungen angegeben werden, dass es darum geht, der Erkenntnis einer unendlich komplexen Welt gerecht zu werden. Wer etwa bei der Erschließung eines Bildes nur auf den Künstler und dessen Biografie schaut, wird der Komplexität des Bildes sicher weniger gerecht als wenn man weitere Faktoren berücksichtigt, wie das Bild selbst, die Bildsituation, den Bildumgang usw. (vgl. Sowa/Uhlig 2006:93f.).
Wenn es um die Komplexitätsreduktion im Kontext der Schule geht, lässt sich der Zusammenhang noch präziser fassen, denn dort muss ein didaktisches Prinzip beachtet werden, das genau dies verlangt, nämlich die didaktische Reduktion: „Didaktische Reduktion findet immer dann statt, wenn umfangreiche und komplexe Sachverhalte aufbereitet werden, um sie für die Lernenden überschaubar und begreifbar zu machen“ (Lehner 2012:9). Die schulische Praxis der Bilderschließung muss somit Komplexität reduzieren.
Wie komplex die Theorien der Wissenschaft sind, wird von dieser nicht nur explizit formuliert, sondern lässt sich auch an den entsprechenden Visualisierungen erkennen (vgl. Abb. 1, 2). Es handelt sich um lose Zusammenstellungen von Begriffen, die sich in einer Vielzahl von unterschiedlichen Kombinationen zusammenfügen lassen. Zum Teil wird dabei mit offenen Feldern gearbeitet, was die Komplexität ins Unendliche steigert (Abb. 1). Für das Modell der Visual Literacy (Abb. 2) wird die „Komplexität“ mit dem Umstand, dass sich einzelne Elemente „überlappen“ und Kompetenzen „richtiggehend ineinander verwoben“ sind, zusätzlich auch verbalisiert (Visual Literacy – Strukturmodell 2016:114).
Die Zeit in wissenschaftlicher Theorie und schulischer Praxis
Als dritten Unterschied zwischen wissenschaftlicher Theorie und schulischer Praxis gilt es zu beachten, dass diese jeweils eine eigene Zeit besitzen. Zwei Aspekte derselben sollen dabei unterschieden werden. Den ersten hat Bourdieu treffend formuliert:
„Es gibt eine Zeit der Wissenschaft, die nicht die der Praxis ist. Für Analytiker ist die Zeit aufgehoben. […] Die wissenschaftliche Praxis ist derart entzeitlicht, daß sie gerne sogar den bloßen Gedanken an das von ihr Verdrängte verdrängt: weil sie nur in einem Verhältnis zur Zeit möglich ist, das dem der Praxis diametral entgegengesetzt ist, trachtet sie die Zeit zu ignorieren und damit die Praxis zu entzeitlichen“ (Bourdieu 1993:149).
Oft dauert es lange Zeit, um zu einer wissenschaftlichen Theorie zu gelangen (vgl. Weber 1988:590). „[N]och offene Bildkategorie(n)“ zu berücksichtigen (Sowa/Uhlig 2006:94), bedeutet, eine zeitlich ins Unendliche reichende Forschung zu betreiben. Typisch für die Praxis ist dagegen das Agieren „in der Hitze des Gefechts, d.h. unter Bedingungen, unter denen Distanzgewinnen, Zurücklehnen, Überschauen, Abwarten, Gelassenheit ausgeschlossen sind“ (Bourdieu 1993:150). Selbstreflexion und Komplexitätssteigerung benötigen Zeit, sind mitunter unabschließbar und daher in der schulischen Praxis der Bilderschließung nicht möglich – Unterrichtsstunden, Klassenarbeiten und Abiture haben einen klaren zeitlichen Rahmen, so dass man sich gerade nicht zurücklehnen und unendlich viel Zeit lassen kann.
Eine zweite Eigentümlichkeit der Praxis in Bezug auf die Zeit besteht darin, dass die charakteristischen Elemente der Praxis, wie unreflektierte Haltungen und Handlungen, viel dauerhafter sind als Meinungen, Diskurse und Vorstellungen – also letztendlich wissenschaftliche Theorien –, sich also weniger schnell verändern (vgl. Nille 2016:326–328). Wieso sollte man die gängige Praxis ändern, wenn sie funktioniert? Wissenschaftliche Theorien hingegen werden dazu aufgestellt, damit sie überboten, modifiziert und revidiert werden, um auf diese Weise einen wissenschaftlichen Fortschritt zu erzielen. Max Weber hat dies prägnant formuliert: „Wissenschaftliche aber überholt zu werden, ist […] nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck“ (Weber 1988:592). Wieso sollte man den wissenschaftlichen Fortschritt hinauszögern wollen.
Zusammenfassung zu den Unterschieden von wissenschaftlicher Theorie und schulischer Praxis
In den vorigen drei Abschnitten wurden einzelne Kriterien genauer besprochen, um die Unterschiede zwischen wissenschaftlicher Theorie und schulischer Praxis möglichst systematisch bestimmen und damit für die Erarbeitung einer adäquaten Theorie der Praxis fruchtbar machen zu können. Zur besseren Orientierung seien die Ergebnisse in folgender Tabelle zusammengefasst:
Mit der Rubrik „Zweck“ wird versucht, genauer anzugeben, weshalb es zu den Unterschieden zwischen wissenschaftlicher Theorie und schulischer Praxis kommt. Weiterhin ist zu betonen, dass die Überlegungen in keiner Weise abgeschlossen sind. Dies wird dadurch markiert, dass die Kategorienliste offen angelegt ist. Gleiches gilt für die Angabe der Zwecke. Eine weitere Ausdifferenzierung sowie Erweiterung der soeben skizzierten Kategorien wäre beispielsweise durch die Heranziehung der Theorien der Schule als spezifischem gesellschaftlichen System zu erreichen, was an dieser Stelle jedoch nicht geschehen kann (vgl. etwa Fend 2006, Wiater 2012).
Die vorgestellten Begriffe bilden erste Bestandteile einer Theorie der Praxis der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht, einer Theorie also, bei der die Praxis explizit Berücksichtigung findet. Neben der begrifflichen Arbeit an der Theoriebildung, bei der sich in erster Linie auf andere Forschungen berufen wird, gilt es nun, empirische Daten zu berücksichtigen. Und auch dabei helfen die Begriffe, da sie angeben, welche Kriterien die Dokumente erfüllen müssen, um über die Praxis Auskunft zu geben. So lassen sich die relevanten Dokumente identifiziert und ihre Auswertung trägt dann wiederum zur Arbeit an der Theorie bei. Dieser Wechselbezug, dieses Pendeln zwischen Theorie und Empirie ist für die Wissenschaft unabdingbar, wenn sie sowohl systematisch als auch wirklichkeitsbezogen sein möchte (vgl. Panofsky 2002:25).
Der Dreischritt Beschreibung – Analyse – Interpretation. Eine Dokumentenanalyse zur Praxis der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht
Bislang wurde herausgestellt, welche allgemeinen Bedingungen die Praxis der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht erfüllen muss (Abb. 3). Es wurde noch nicht herausgestellt wie diese Praxis konkret aussieht. Hierzu wären u.a. umfangreiche Untersuchungen – in Form von Beobachtungen, Interviews und Fragebögen – von möglichst vielen Unterrichtssituationen vor Ort nötig, was hier nicht durchgeführt werden kann. Stattdessen soll das Augenmerk auf die Analyse von Dokumenten gelegt werden. Die bisherige Forschung hat sich auf Curricula und Lehrpläne bezogen, um die Schulpraxis zu erschließen (vgl. Wagner 2018:9), was zumindest fraglich ist, da dort nicht die schulische Praxis beschrieben (Wie ist es?), sondern allgemeine Ziele vorgegeben werden (Wie soll es sein?). Dass diese Zielvorgaben Auswirkungen auf die Praxis haben, leuchtet ein (vgl. nächsten Abschnitt). Jedoch gilt es an dieser Stelle, Dokumente auszuwerten, die direkte Auskunft über die Praxis geben. Dies ist dann der Fall, wenn die Dokumente Teil der schulischen Praxis der Bilderschließung im Kunstunterricht sind.
Vor allem für den Kunstunterricht der Oberstufe finden sich an jeder Schule (bei der ich nachgefragt habe) kurze Anleitungen zur Bilderschließung, die von den dort tätigen Kunstlehrer*innen erstellt werden und unter verschiedenen Bezeichnungen firmieren. Sie werden oft an die Schüler*innen ausgeteilt, die dann danach vorgehen sollen. Auf diese Weise wird die Praxis geprägt. Ein Beispiel, das aktuell an einem Hessischen Gymnasium verwendet wird, ist mit „Schema für eine Bildanalyse“ betitelt und zeigt ein Vorgehen in vier Schritten: Erstens sollen „[a]llgemeine Angaben zu Bild und Künstler“ gemacht, zweitens eine „Bildbeschreibung“, drittens eine „[f]ormale Analyse“ und viertens eine „Interpretation“ durchgeführt werden (Abb. 4). Vor allem die Schritte zwei bis vier sind von Interesse, da hierauf die Hauptarbeit entfällt, denn dort gilt es, konkrete Fragen zu beantworten: „Was ist zu sehen?“, „Wie werden bildnerische Gestaltungsmittel eingesetzt?“, „Warum werden Bildinhalt und Form so dargestellt“ (ebd.)?
Die Grundstruktur läuft auf den Dreischritt Bildbeschreibung, formale Analyse und Interpretation hinaus. Ist dies nun mit den oben angegeben Merkmalen der Praxis vereinbar (Abb. 3)? Von Selbstreflexion ist nirgends die Rede, sondern es wird klar vorgegeben, was zu tun ist, ohne dabei das Tun selbst in den Blick zu nehmen. Komplex ist das Schema nicht. Im Vergleich zu den Modellen der Forschung, die eine räumliche Anordnung zeigen, bei der die Begriffe und damit die einzelnen Themenkreise vielfältig kombiniert werden können, ohne einen eindeutigen Weg vorzugeben (Abb. 1, 2), wird deutlisch, dass ein lineares Vorgehen angezeigt wird – klare Schritte, die nacheinander abzuarbeiten sind. Auch was die Zeit betrifft, so legt die klare Anordnung nahe, dass das Schema in einer der Schule angemessenen Zeit durchzuarbeiten ist. Schließlich gibt es eine klare Reihenfolge sowie ein Ende. Das Erscheinungsbild des letzten Beispiels deutet an, dass es schon einige Jahre in Gebrauch ist (Abb. 4). Um die Beständigkeit des Schemas genauer beurteilen zu können, ist ein Blick in die Geschichte nötig. Bereits im Jahr 1986 findet sich in einem Lehrerheft eine Abbildung, die verdeutlicht, dass der Dreischritt Bildbeschreibung, Analyse und Interpretation die Reformen der Schule, die in den letzten drei Jahrzehnten stattgefunden haben, überdauert hat (Abb. 5). Damit erfüllt die Grundstruktur des Dreischritts alle geforderten Merkmale der Praxis.
Fragt man danach, warum der Dreischritt so dauerhaft betrieben wird, so lassen sich einige Vorteile benennen, die mit diesem verbunden sind: Er funktioniert in der Praxis gut, da er klar und übersichtlich aufgebaut ist, wodurch die Schüler*innen sich das Vorgehen gut einprägen und abarbeiten können, während die Lehrer*innen entsprechende Arbeiten gut korrigieren können. Ferner wird ein Pensum vorgegeben, das gut in der knappen Zeit, die die Schule dafür bereithält, bearbeitbar ist. Insgesamt handelt es sich um eine Bilderschließung, die ohne weitere Informationen auskommt, also werkimmanent angelegt ist, wobei im Bereich der Interpretation noch weitere Aspekte ergänzt werden können.
Nun gilt es, diese Grundstruktur in weiteren Dokumenten der Praxis zu identifizieren. Erklärvideos im Internet sind die erste Anlaufstelle für Schüler*innen, wenn sie sich eigenständig über ein Thema informieren sollen (vgl. Schmid/Goertz/Behrens 2017:25–31). Zur Bilderschließung findet sich der Dreischritt auch auf voutube. Dasselbe gilt auch für weitere Seiten im Internet, wie etwa die Seite Abipedia. Auch in den gängigen Schulbüchern ist der Dreischritt präsent, der dort neben anderen Arten der Bilderschließung vorkommt (Abb. 6). Bei diesem Beispiel befindet er sich am Anfang des Buches und damit an prominenter Stelle. Das gewählte Beispiel ist auch daher interessant, da es einem Buch für die Sekundarstufe I entstammt, was verdeutlicht, dass die Bilderschließung auch dort eine Rolle spielt (Peez u.a. 2015: Umschlaginnenseite).
Zu den wichtigsten Dokumenten, in denen sich der Dreischritt findet, gehören die Abiture. Als Beispiel sei auf eine Aufgabe aus Baden-Württemberg zurückgegriffen, die da lautet: „Beschreiben Sie die unvollendete Skulptur ‚Pietà Rondanini‘ von Michelangelo. Erschließen Sie das Werk in formaler und inhaltlicher Hinsicht“ (Abiturprüfung Bildende Kunst (Baden-Württemberg) 2017). Auch hier begegnet die Folge von Beschreiben, formaler und inhaltlicher Erschließung. Da das Abitur das Ziel der schulischen Ausbildung darstellt, muss die Praxis an diesem ausgerichtet sein – anders als die Vorgaben der Curricula lässt sich das Abitur in der Praxis schwerlich umgehen.
Zusammengefasst zeigt sich also, dass vieles dafür spricht, dass die Grundstruktur der Praxis der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht aus dem Dreischritt
- Beschreibung (des Bildes und der Wirkung)
- Analyse der Gestaltungsmittel
- Interpretation
besteht. Schon der Vergleich der genannten Beispiele macht deutlich, dass dabei durchaus weitere Differenzierungen möglich wären. Bedenkt man nur, dass solche Schemata in jeder Schule erarbeitet werden, so deutet sich eine große Mannigfaltigkeit in den Details an, woraus sich in einer weiterführenden Arbeit unterschiedliche Typen des Dreischritts der Bilderschließung erstellen ließen. Gleichwohl ist die Grundstruktur unverkennbar vorhanden, die sich stark von den Angeboten in der Forschung unterscheidet (vgl. Abb. 1, 2).
Nachdem der Dreischritt Beschreibung, Analyse und Interpretation als Grundstruktur der Praxis der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht identifiziert worden ist, kann nun gefragt werden, wie die Forschung diesen Dreischritt behandelt hat. Die Forschung erwähnt den Dreischritt oft und bestätigt mitunter sogar, seine Bedeutsamkeit für die Kunstpädagogik (vgl. z.B. Albrecht/Albrecht 2018:317). Doch nur selten wird versucht, hiervon ausgehend weitere Überlegungen zu strukturieren, wobei entsprechende Ergebnisse bislang noch skizzenhaft sind (vgl. Heinen 2018:19). Oft begegnet der Einwand: „eine schematische Methode schiebt sich vor die offene Bildbegegnung“ (Sowa 2018:55). Was sich in der Forschung nicht findet, ist eine intensive Auseinandersetzung mit dem Dreischritt. Dies zeigt sich auch daran, dass die soeben herangezogenen Dokumente bislang nicht von der Forschung ausgewertet wurden.
Das hessische Kerncurriculum. Eine Beispielsanalyse zur Praxis der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht
Während die Dokumentenanalyse im letzten Abschnitt überblicksartig angelegt war, soll nun ein Beispiel etwas näher untersucht werden, um zu demonstrieren, wie eine Weiterarbeit am Thema der Praxis der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht aussehen könnte, die sowohl für die kunstpädagogische Theorie als auch für den konkreten Schulunterricht von Relevanz ist.
Hierzu soll zunächst ein Dokument in den Fokus gerückt werden, nämlich das hessische Kerncurriculum für das Fach Kunst in der gymnasialen Oberstufe (Kerncurriculum gymnasiale Oberstufe Kunst o.J.). Solche Curricula werden von der Forschung oft herangezogen, um den Status quo des Kunstunterrichts in der Schule anzugeben (vgl. Tavernier 2013:53–59; Wagner 2018:9; Wagner/Schönau 2016; Welzel 2010). Dieses Vorgehen wurde am Anfang des vorigen Abschnitts bereits kritisiert, da hierdurch kein direkter Weg zur Praxis führt, da die Curricula zunächst einmal Zielsetzungen formulieren und nicht die Praxis beschreiben. Es soll also an diesem Beispiel auch ein Stück geklärt werden, welches Verhältnis zwischen Curricula und Schulpraxis besteht. Für den hier interessierenden Bereich der Bilderschließung findet sich dort folgender Überblick:
Die Auflistung zeigt, über welche Kompetenzen die Schüler*innen am Ende verfügen sollen. Gleicht man diese Liste mit dem die Praxis bestimmenden Dreischritt ab und ordnet jede Kompetenz einem der drei Schritte zu, so ergibt sich folgendes Bild:
In vielen Punkten ist eine Zuordnung möglich, wobei auffällt, dass ein großer Teil auf das weite Feld der Interpretation entfällt, während in der Praxis oft die Analyse am umfangreichsten gestaltet ist (Abb. 4, 6). Trotz vieler Übereinstimmungen finden zwei Punkte des hessischen Kerncurriculums keinen Ausdruck in der schulischen Praxis. Daher gilt es, diesen Fehlstellen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Einmal sollen die Schüler*innen „methodische Prinzipien der Analyse und Interpretation unterscheiden, einschätzen und den Erkenntnisprozess darauf aufbauend mit sachgerechten Lösungsstrategien selbstständig strukturieren“ (BE 4), das andere Mal „die Erschließung von Bildern dokumentieren und reflektieren“ (BE 11) können. Beiden Forderungen haben etwas gemeinsam: sie verlangen Selbstreflexion. Dies passt nicht in den Bereich der Praxis, sondern gehört der Wissenschaft an (Abb. 3). Den Bezug zur Wissenschaft legt auch das Kerncurriculum selbst nahe, das allgemein wissenschaftspropädeutischen Kompetenzen von den Schüler*innen fordert, zu denen unter anderem gerechnet wird, „die Perspektivität fachlichen Wissens reflektieren“ sowie „in Modellen denken und modellhafte Vorstellungen als solche erkennen“ zu können (Kerncurriculum gymnasiale Oberstufe Kunst o.J.:8).
Fest steht, dass genau diese Punkte in der Praxis fehlen. Somit muss in einem nächsten Schritt versucht werden, die vom Kerncurriculum geforderten Punkte der Selbstreflexion in die Praxis zu integrieren, und zwar so, dass die Praxis dennoch damit zurechtkommt. Eine Möglichkeit besteht darin, bei dem Dreischritt in einer konkreten Form anzusetzen, wie ihn etwa das oben vorgestellte Schulbuch bietet (Abb. 6). Von Selbstreflexion ist dort nirgends die Rede. Ein Punkt hieraus muss als Beispiel dafür genügen, wo und wie man die Reflexion des eigenen Tuns dort einbauen könnte. Und zwar heißt es unter dem zweiten Punkt:
„Beschreibe das Dargestellte so genau, dass sich jemand, der das Bild noch nicht gesehen hat, eine Vorstellung davon machen könnte. Du solltest aber nicht jedes Detail nennen. […] Gehe systematisch vor, z.B. vom Hauptmotiv zu den Nebenmotiven, vom Vorder- zum Hintergrund oder von der Bildmitte zu den Bildrändern – je nach Werk und Motiv“ (Abb. 6).
Es genügt der kleine Zusatz: „und erläutere deine Entscheidung“, um eine Selbstreflexion im Sinne von BE 4 und v.a. BE 11 zu erhalten. Praxisnah ließe sich eine solche Aufgabe gut in einem Bildvergleich realisieren. Um ein Beispiel zu nennen, bietet es sich bei Joseph Anton Kochs Heroische Landschaft mit Regenbogen an, bei einer Beschreibung im Vordergrund zu beginnen, um dann mit dem Mittel- und Hintergrund fortzufahren (Abb. 9). Dagegen wird man bei Caspar David Friedrichs Abtei im Eichwald die Beschreibung in der Bildmitte beginnen, um sich dann an die Ränder vorzuarbeiten (Abb. 10). Die Aufgabe könnte lauten: Beschreibe die beiden Bilder und erläutere daraufhin dein jeweiliges Vorgehen. Für die Bearbeitung ist nicht viel Zeit nötig und sie ist von der Komplexität her gut zu bewältigen, wenn die möglichen Beschreibungsstrategien vorab gelernt wurden, so dass die Aufgabe die schulische Praxis beziehungsweise die Schüler*innen nicht überfordert. Weiterhin hebelt diese Aufgabe das Bedenken der Forschung aus, dass Schematisierungen dem Eigensinn, der individuellen Spezifik eines jeden Bildes zuwiderlaufen, denn gerade diese gilt es zu berücksichtigen, sich bewusst und kenntlich zu machen.
Ausblick zur Erforschung der Praxis der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht
Es wurde gezeigt, dass die bisherigen theoretischen Reflexionen zur Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht die Praxis mit ihren eigentümlichen Regeln nicht thematisiert haben. Dieses Problem wurde nicht nur aufgezeigt, sondern es wurden auch erste Lösungen für dasselbe angeboten. Gelingt es, ausgehend von der Grundstruktur der Praxis, dem Dreischritt von Beschreibung, Analyse und Interpretation, eine Theorie der Praxis der Bilderschließung im schulischen Kontext weiter zu entwickeln, wird sich auch das Interesse der Praxis an der Theorie erhöhen.
Für eine differenzierte Weiterarbeit sollte es zudem darum gehen, einerseits weitere Theorieelemente zu integrieren (z.B. aus dem Bereich der Theorie der Schule; vgl. etwa Fend 2006, Wiater 2012), andererseits die empirische Seite, das heißt die Menge an auszuwertenden Dokumenten (z.B. alle schuleigenen Schemata zur Bilderschließung einer Stadt oder eines Bundeslandes) auszubauen. Durch dieses Vorgehen ließe sich eine weitaus differenziertere Theorie der Praxis der Bilderschließung im schulischen Kunstunterricht entwerfen, die zugleich die Verbindung zur Praxis aufrecht erhält und sich daran überprüft.