Corona oder das Ende der Kulturellen Bildung?
Bereits bei der weltweiten Finanzkrise vor einigen Jahren stellte man die Frage danach, wo der Staat mit seinen begrenzten Finanzmitteln helfend eingreifen soll. Man hat dieses Problem unter dem Aspekt einer „Systemrelevanz“ diskutiert, wobei Kultur- und kulturpädagogische Einrichtungen ebenso wenig als systemrelevant erkannt wurden wie die Menschen, die in diesem Feld tätig sind. Unterstützt hat man die Banken und damit oft genug diejenigen, die verantwortlich waren für die Krise.
Auch heute spielt die Frage nach der Systemrelevanz wieder eine Rolle, und wieder einmal sind es die Akteure und Einrichtungen im Kulturbereich, die dieses „Gütesiegel“ nicht bekommen. Immerhin engagieren sich die Organisationen im Kulturbereich und im Feld der Kulturellen Bildung sowie einige prominente Künstlerinnen und Künstler dafür, dass es zumindest einiges an Hilfsprogrammen gibt.
Darüber soll in dem folgenden Beitrag allerdings weniger die Rede sein. Die Frage ist vielmehr, in welcher Beziehung Corona zur individuellen Kulturellen Bildung selbst und nicht zu den Anbietern und Angeboten in diesem Feld steht. Auch wenn Fragen des Erhalts entsprechender Strukturen und Einrichtungen zweifellos wichtig sind, so ist die Frage nach der Bildungsrelevanz von Corona plausibel: Wenn unter Bildung die Disposition verstanden wird, sein eigenes Projekt des guten Lebens zu realisieren, wenn also unter Bildung Lebenskompetenz verstanden wird und wenn jeder von uns erlebt, wie sehr Corona in die Gestaltung des eigenen Lebens eingreift, dann wird deutlich, dass Corona quasi eine Art „Elchtest“ dafür ist, ob und inwieweit (die bislang erreichte) Bildung und damit auch Kulturelle Bildung diese Aufgabe der Unterstützung bei der Lebensbewältigung bei jedem Einzelnen erfüllt.
Ein erster Aspekt wurde bereits mit dem obigen Hinweis auf die politisch notwendigen Auseinandersetzungen für den Erhalt der kulturellen Infrastruktur angesprochen. Denn wenn Bildung – so eine andere Annäherung – auch als Entwicklung und Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen verstanden wird, dann wird deutlich, dass sich der entsprechend gebildete Mensch auch um diese Weltverhältnisse kümmern muss. Denn Bildungsprozesse geschehen in einem sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Kontext, der gerade auch in einer parlamentarischen Demokratie von jedem Einzelnen mitgestaltet werden kann und soll. Im Hinblick auf einen möglichen „Elchtest“ kann man also fragen, inwieweit Menschen, die bislang an Programmen der kulturellen Bildungsarbeit teilgenommen haben und von denen man daher annehmen sollte, dass sie ein gewisses Maß an kultureller Bildung und damit Lebenskompetenz erworben haben, sich aktiv in diese politische Gestaltung einmischen.
Interessant (und aus meiner Sicht problematisch) ist in diesem Zusammenhang, dass dort, wo man in den entsprechenden Wissenschaften über theoretische und konzeptionelle Grundlagen einer kultur- und medienpädagogischen Arbeit nachdenkt, nicht immer die ökonomische und politische Einbettung der Bildungsprozesse mit reflektiert werden und dies möglicherweise noch mit dem Argument einer „Kunstautonomie“ rechtfertigt.
Ein weiteres Ziel von (kultureller) Bildung besteht darin, die Orientierungsfähigkeit des Menschen – einige sprechen von „Navigationskompetenz“ – zu entwickeln und oder zu verbessern. Genau eine solche ist gerade heute gefragt, wo wir täglich mit immer neuen Forschungsergebnissen und Studien konfrontiert werden und sich Virolog*innen, Epidemiolog*innen, Ärzt*innen, Soziolog*innen, Psycholog*innen und natürlich auch Politiker*innen ununterbrochen zu Wort melden, um auf der Basis irgendwelcher Studien, deren Seriosität nur die wenigsten überprüfen können, solche einschneidenden Forderungen an das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger erheben, die möglicherweise am nächsten Tag schon wieder zurückgenommen werden. Es ist also eine entscheidende Bildungsfrage, für sich selbst und seine Familie die Entscheidung darüber zu treffen, welchen Hinweisen man vertraut. Offenbar wächst das Misstrauen in diese öffentlichen Diskurse, zumindest bei einigen Menschen und Gruppierungen, denn wie könnte man sonst die vielfältigen und gelegentlich auch gewaltförmigen Corona-Proteste einordnen. Sind dies alles Menschen, die über keine kulturelle Bildung verfügen? Bei aller Ambivalenz dieser Protestbewegungen wird man allerdings ein Problem ernst nehmen müssen: nämlich die Übermacht der Exekutive, die jenseits aller Regularien einer parlamentarischen Demokratie durch bloße Anordnungen essenzielle Grundrechte außer Kraft setzt – und dies schon seit Monaten. Selbst das jetzt verabschiedete Infektionsschutzgesetz, das in Grenzen die Mitsprache des Parlaments festlegt, hat immer noch solche Schwachpunkte.
Doch was hat das mit kultureller Bildung zu tun? Im Bereich der kulturellen Bildungsarbeit und der zugehörigen Politik, die geeignete Rahmenbedingungen für gelingende Bildungsprozesse bereitstellen will, spielt der Begriff der Teilhabe eine wichtige Rolle. Man muss allerdings dabei sehen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Teilhabe gibt, sodass man sich nicht bloß auf Probleme mit der jetzt reduzierten kulturellen Teilhabe beschränken darf. Kulturelle Bildung ist in diesem Sinne auch politische Bildung, selbst wenn einige Akteure aus diesem Feld das nicht so sehen.
Teilhabe als ein wichtiger Leitbegriff im Feld der kulturellen Bildungspolitik und in der Kulturellen Bildung selbst bedeutet aber auch, die erheblichen Ungleichheiten unserer Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen, die durch Corona noch verschärft werden. Denn die zum Teil massiven Einschränkungen der Bewegungsfreiheit (und damit der Teilhabemöglichkeiten) können besser bewältigt werden, wenn man in einer gut ausgestatteten Wohnung mit einem entsprechenden kulturellen Anregungspotenzial etwa im Bereich der Musik oder der Literatur, aber auch der elektronischen Medien lebt. Hier ist der Aspekt von kultureller Bildung angesprochen, der sich auf soziale Sensibilität und durchaus auch auf Mitleid mit solchen Menschen bezieht, denen es möglicherweise weniger gut geht als einem selbst. Die Frage stellt sich daher, inwieweit Menschen, von denen man glaubt, dass sie kulturell gebildet sind, mit diesem Aspekt der Solidarität umgehen.
All die genannten Aspekte haben sowohl mit den Weltverhältnissen des Einzelnen zu tun, also mit der Art und Weise, wie man die sich verändernden sozialen und kulturellen Gegebenheiten registriert und verarbeitet, sie haben aber auch damit zu tun, wie man sich selbst in diesem sich verändernden Kontext sieht. Eine einfache und banal klingende Frage besteht hierbei darin, bei aller Notwendigkeit des Erhalts der kulturellen Infrastruktur zu überlegen, ob man mit dem zeitweiligen Ende entsprechender Angebote nunmehr auch ein Ende der Kulturellen Bildung konstatieren muss oder ob eine solche Bildung als individuelle Disposition zur Lebensgestaltung nicht auch dann vorhanden sein muss, wenn es zeitweise nicht die regelmäßigen Impulse durch entsprechende kulturpädagogische Angebote gibt. Wie geht man also selbst mit der neuen Situation um, in der bisherige Normalitäten zumindest zeitweise nicht mehr vorhanden sind? Sollte gerade kulturelle Bildung nicht gut darauf vorbereiten, mit Widerfahrnissen, Ungeplantem und Unvorhergesehenem umzugehen, immerhin Wirkungen, die man einem Umgang mit den Künsten zuschreibt?
Wenn (kulturelle) Bildung spätestens seit Humboldt auch als Selbstbildung verstanden wird, so bedeutet dies doch auch, dass man bei seinen individuellen Bildungsbemühungen nicht nur auf Angebote von außen angewiesen sein müsste.
Man redet so oft davon, dass man es kaum noch hören will: eine Krise nämlich als Chance zu betrachten. Trotzdem will ich diese Redewendung mit der Überlegung aufgreifen, inwieweit die durchaus krisenhafte Zeit der Pandemie dazu geeignet ist, bestimmte Wirksamkeitsbehauptungen in unserem Arbeitsfeld kritisch daraufhin zu überprüfen, inwieweit apolitische Konzeptionen einer entsprechend verstandenen künstlerischen Bildung tragfähig und angemessen sind, welche Rolle sinnliche Erfahrungen in Zeiten eines digitalen Hypes etwa in Schulen oder bei Konferenzen spielen, was Selbstbildung in Zeiten eines reduzierten Angebotes bedeutet. Eine Herausforderung an die Kreativität ist es in dieser Situation, neue Angebote und Formate zu entwickeln und auch dadurch die „Systemrelevanz“ aufzuzeigen.
Was könnte das heißen? Als erstes bedeutet es, sich von Corana nicht unterkriegen zu lassen, also trotz Schwierigkeiten weiter mit Freude die gewohnten, aber vielleicht auch neue Formen ästhetisch-kultureller Praktiken zu realisieren. Ein vielleicht ungewöhnliches praktisches Beispiel habe ich gerade erlebt: Ein junger Mann aus Deutschland wollte mit seiner chilenischen Freundin, beide Musiker und Theatermenschen aus Freude und Leidenschaft, ein Stück entwickeln, in dem – quasi als Bilderbogen – Ereignisse aus der Unterdrückungsgeschichte Südamerikas in einer Art musikalischer Revue mit Liedern aus einzelnen südamerikanischen Staaten und Regionen zusammengestellt werden sollte. Eine geplante Reise nach Deutschland, wo man gemeinsam das Stück erarbeiten wollte, konnte Corona-bedingt nicht stattfinden, also kommunizierte man per Internet und probte auch auf diese Weise zusammen. Irgendwann konnte die Reise von Chile nach Deutschland dann doch noch stattfinden und das Stück erlebte seine Uraufführung, leider nur vor einer Kamera und nicht vor Publikum.
Natürlich ist dies kein normales Projekt, doch zeigt es die Form von Widerständigkeit gegen äußere Umstände, die gebraucht, aber auch in solchen Zeiten entwickelt werden kann. Selbstbehauptung kann man das nennen, und sie entsteht auch dadurch, dass die ästhetische Praxis als sinnvoll und lohnenswert empfunden wird. Bildung meint genau dies, nämlich gerade in schwierigen Zeiten sein Leben zu leben. Auch kulturelle Bildung ist keine Schönwetter-Disposition. Sie zeigt sich, sie entwickelt sich aber auch gerade in Krisenzeiten. Man sprach früher von einem „Mut zur Zukunft“, heute sollte man von einem „Mut zur Gegenwart“ sprechen, den man sich nicht nehmen lassen soll. Immer noch ist vieles möglich, nur nicht mehr auf die übliche Weise. Na und?