Choreografien des Alltags. Bewegung und Tanz im Kontext Kultureller Bildung
Wir richten unsere Wohnungen ein und stellen damit eine choreografische Ordnung unseres privaten Raumes her. Wir folgen in öffentlichen Gebäuden, den Bahnhöfen, Flughäfen, Stadien und Behörden dem Flow, der den Architekturen eingeschrieben ist. Wir erleben die choreografischen Ordnungen öffentlicher Räume durch das Verfolgen der Hinweisschilder. Wir orientieren uns im Straßenverkehr an den in der Verkehrsinfrastruktur materialisierten Bewegungskonzepten der Stadt- und Raumplanung und an den normativen Ordnungen der Verkehrsregeln. Wir stehen in Schlangen an Theaterkassen, Supermarkttheken und Bushaltestellen, überholen links auf Rolltreppen und Autobahnen. Wir warten in Foyers auf den Einlass und setzen uns auf die zugewiesenen Plätze.
Wir haben raum-zeitliche Strukturierungen des Alltags gefunden, die für uns zur alltagsweltlichen Orientierung notwendig sind: Wir richten den Alltagsablauf an linearer und mitunter auch an rhythmischer Zeit (bei Vollmond kann man nicht schlafen) aus und durchlaufen die Räume des Tages und der Nacht: Küche, Bad, Vorlesungssaal, Seminarraum, Supermarkt, Tanzstudio, Kino, Schlafzimmer etc. In unseren Bewegungen durch die Tageszeiten und Räume bringen wir das immer wieder unhinterfragt hervor, was wir Alltagswelt nennen.
Die Choreografien der Alltagswelt einerseits und die choreografischen Verarbeitungen von Alltagswelt andererseits lassen sich aus drei Perspektiven beschreiben:
Die Beispiele zeigen, dass Bewegung und Choreografie als grundlegende Bestandteile kultureller und sozialer Alltagserfahrung und -gestaltung und damit als Grundlage einer Sozialität und Kulturalität der (Bewegungs-)Bildung angesehen werden können. Betrachtet man Bewegungsbildung als ästhetische und kulturelle Bildung, rückt zwangsläufig die Frage in den Vordergrund, wie diese in globalisierten, transnationalen, multikulturellen Gesellschaften den verschiedenen (bewegungs-, körper- und tanz-)kulturellen Traditionen, Körperästhetiken, Geschlechterkonzepten, klassenspezifischen Lebensstilen und religiösen Orientierungen Rechnung tragen will. Eine Antwort auf diese Frage liegt in einer praxeologischen Perspektive, d.h. einer Perspektive, die die Praktiken und Techniken des alltäglichen Handelns in den Vordergrund rückt und sich an dem alltäglichen Umgang der Körper mit Dingen orientiert. Der Text zielt darauf ab, eine sozial- und kulturwissenschaftlich begründete praxeologische Perspektive auf ästhetische und kulturelle Bildung zu richten. Dabei richtet sich der Blick vor allem auf die Kulturalität und Sozialität der Alltagsbewegung und des Tanzes.
Alltagswelt: Bewegung und Wissen
Der soziologische Begriff der „Alltagswelt“ ist zurückzuführen auf den phänomenologischen Begriff der „Lebenswelt“, der die menschliche Welt in ihrer vorwissenschaftlichen Selbstverständlichkeit und Erfahrbarkeit meint und sich damit von einer theoretisch bestimmten wissenschaftlichen Weltsicht absetzt.
Prägend für diese Lesart ist die Phänomenologie Edmund Husserls (Husserl 1996). Unter Lebenswelt versteht Husserl die selbstverständlich gegebene, unhinterfragte Basis jeglichen alltäglichen Handelns und Denkens wie auch jeden wissenschaftlichen Theoretisierens und Philosophierens und dies in einem doppelten Sinn: Lebenswelt bezeichnet einerseits das Universum des Selbstverständlichen, d.h. das anthropologische Fundament jeder Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zur Welt. Zum anderen bezeichnet der Begriff die praktische, anschauliche und konkrete Lebenswelt. Diese Doppeldeutigkeit spannt den Lebensweltbegriff auf zwischen Ahistorischem und historisch Wandelbarem, Universellem und Konkretem, zwischen Singulärem und historisch Vielfältigem. Auf diese Weise fungiert er zugleich als Basis der Kritik, insofern aus der lebensweltlichen Erfahrung Kritik erst hervorgeht. Im Sinne der Aufklärung ist er ein emanzipatorischer Begriff, insofern Lebenswelt als konkreter Lebensraum immer auch veränderbar ist.
Ausgehend von dieser phänomenologischen Lesart entwickelten sich vor allem in der Soziologie verschiedene Bedeutungsvarianten des Begriffes. Einflussreich wurde die von Alfred Schütz (Schütz 2004; Schütz/Luckmann 2003), der die Husserlsche Doppeldeutigkeit in den Alltagsbegriff fortsetzt. Alltagswelt versteht Schütz einerseits als kulturell geformte Sinnwelt und andererseits als Basis jeden Wahrnehmens und Verstehens einer sozio-kulturell gegebenen Umwelt und ihrer Wissensbestände.
Die Alltagswelt, so Schütz, ist jedem einfach vorgegeben und wird fraglos und selbstverständlich hingenommen; sie ist die unhinterfragte Basis aller Geschehnisse. Dies ist aber nicht so zu verstehen, dass Alltagswelt essentiell gegeben sei. Vielmehr versteht Schütz sie als eine intersubjektiv erzeugte Kultur- und Sozialwelt. Als Sozialwelt geht die Alltagswelt dem Einzelnen voraus, insofern sie sozial erzeugt und tradiert, d.h. von früheren Generationen erfahren und interpretiert wurde. Da sie mit anderen Menschen geteilt und gemeinsam gedeutet und kommuniziert wird, ist sie eine intersubjektive Welt und alles Wissen von und in ihr ist intersubjektiv.
Wissen ist nach Schütz’ Auffassung die Summe aller Fertigkeiten, Erwartungen und Überzeugungen, aller Wahrnehmungsmuster und Handlungsrezepte und – so möchte ich ergänzen – aller Bewegungsordnungen, insofern sie von einer gesellschaftlichen Gruppe als Wissen angesehen und in der Ausführung beglaubigt werden. Alltagswelt ist demnach zugleich lesbar als die Basis jeglichen Handelns, als eine intersubjektive Welt, die auf Verständigung beruht und die als Kultur- und Sozialwelt mit Wissensbeständen und Ordnungen durchzogen ist, die allerdings präreflexiv sind und als ein Universum des Selbstverständlichen erscheinen. Sie ist damit auch Grundlage jeglicher kulturellen Bildung.
Geprägt ist die Struktur der Lebenswelt nach Schütz durch das, was er „natürliche Einstellung“ nennt: Sie lässt dem Menschen die Existenz seiner alltäglichen Welt, die Erfahrungen, die er in ihr macht, die Handlungen, die er durchführt und die Bedeutungen, die die Dinge in ihr haben, natürlich und unhinterfragbar erscheinen. Der Mensch orientiert sich in ihr, indem er pragmatischen Maximen folgt und Handlungsroutinen und Praktiken, d.h. auch Bewegungsmuster etabliert, die wie ich argumentieren möchte, immer auch choreografischer Natur sind. Ihre Stabilität bezieht die Alltagswelt folglich auch aus der Zuversicht des Handelnden, dass sich Erlebnisse und Situationen gleichförmig gestalten und er selbst, auf seinen Erfahrungen aufbauend, auch in Zukunft bestimmte Fähigkeiten einsetzen und Handlungen ausführen kann, die sich schon in der Vergangenheit bewährt haben. Diese Zuversicht, die Pierre Bourdieu, Schütz aufgreifend, in der habituellen Disposition verankert sieht, entsteht, so hat Erving Goffman (Goffmann 1986) überzeugend nachgewiesen, durch Interaktionsrituale. Mein Argument greift diese Lesart auf und folgt einem bewegungssoziologischen Ansatz mit der These, dass diese Zuversicht vor allem in Bewegungsroutinen begründet liegt, die choreografischen Ordnungen folgen.
Die choreografierte Ordnung der Alltagswelt
Bewegung ist, phänomenologisch betrachtet, der Vermittler zwischen Mensch und Welt, das Medium, mit dem und über das der Mensch die Welt erfasst (Merleau-Ponty 1974, Waldenfels 2009; 1985). Und diese Welt stellt sich aus sozialwissenschaftlicher Sicht immer als Sozial- und Kulturwelt dar, ebenso wie Bewegungen nicht anthropologisch gegeben sind, sondern als Sozial- und Kulturtechniken verstanden werden: als Kulturtechniken insofern sie Wissensbestände in der körperlichen Erfahrung aktualisieren, beglaubigen oder unterlaufen. Als Sozialtechniken insofern sie mit Ordnungssystemen, Machtverhältnissen und Bedeutungsstrukturen des Sozialen verbunden sind, wie z.B. geschlechtsspezifische Körper- und Bewegungssprachen.
Als Sozial- und Kulturtechniken sind Bewegungen immer intersubjektiv, da sie immer auf etwas, „das Andere“ oder „den Anderen“ bezogen sind. Vor allem Goffman hat diesen Aspekt der Intersubjektivität alltäglicher Erfahrung soziologisch gedeutet und damit Bewegung weniger als ein anthropologisches Phänomen, sondern als eine soziale Tatsache vorgestellt (vgl. Goffmann 1986). Goffman hat herausgearbeitet, dass soziale Interaktion fundamental von der Organisation des Körpers in Raum und Zeit abhängt. Sein Vermächtnis an die Soziologie ist es, Interaktionsordnungen als Ordnungen von sich bewegenden Körpern vorgestellt zu haben, die, so möchte ich hinzufügen, auf choreografische Muster rekurrieren. Am Beispiel des Fußgängerverkehrs hat Goffman deutlich gemacht, dass körperliche Bewegungen immer intersubjektiv sind und zudem einerseits auf Wissensbestände zurückgreifen, die die Bewegungen des Anderen lesbar machen. Andererseits ereignet sich der Fußgängerverkehr auf der Grundlage von choreografischen Ordnungen, die wiederum in der Bewegung als Interaktionsordnungen hergestellt werden. Dies gelingt, weil die Bewegung der Körper aufgrund erlernter Kulturtechniken vorhersehbar und lesbar ist. Die Lesbarkeit von Bewegung einerseits und die quasi automatischen, mit Bourdieu gesprochen über den „sens pratique“ (Bourdieu 1980) abgerufenen Bewegungen gehören basal, so möchte ich ergänzen, zu den unhinterfragten kulturellen Wissensvorräten und sozialen Ordnungen, die für die alltagsweltliche Orientierung als selbstverständlich angenommen und unhinterfragt ausgeführt werden.
Wenn Bewegung – auch aus alltagsweltlicher Sicht – nicht ein auf ein einzelnes Subjekt zu beziehendes Phänomen ist, sondern eine intersubjektive Form, die eine Bezugnahme der Körper in Raum und Zeit voraussetzt und nur in Bezug auf „den Anderen“ oder „das Andere“ generiert wird, dann ist alltagsweltliche Erfahrung immer auch an tradierte choreografische Ordnungen des Sozialen gebunden. Diese haben sich als Wissensordnungen in die Körper eingeschrieben und werden in der Bezugnahme aktualisiert – und hier können sie konventionalisierend oder transformierend wirken.
Soziale Choreografien
Hier kommt das Konzept der sozialen Choreografie ins Spiel, das ich als einen zentralen Bestandteil Kultureller Bildung vorschlagen möchte (vgl. Klein 2012; 2009). Ich benutze es, um den aus dem Tanz stammenden Begriff der Choreografie, verstanden als (mitunter schriftlich fixierte) Organisation von Körpern und Raum und Zeit für soziale Figurationen fruchtbar zu machen (vgl. Klein 2011). „Soziale Choreografie“ verstehe ich doppeldeutig: zum einen als konkrete räumlich-zeitliche Organisationsformen von Körpern, die sich interaktiv aufeinander beziehen bzw. interkorporal sind (z.B. im Straßenverkehr, in Paar- oder Gruppentänzen etc.). Zum anderen verwende ich „soziale Choreografie“ als ein Konzept, das darauf abzielt, eine Verbindung von Sozialem und Ästhetischem herzustellen und dem Ästhetischen eine fundamentale Rolle bei der Beschreibung des Sozialen – sowohl in seinen Strukturen wie in Interaktionen – zuzuschreiben. Als Konzept fokussiert es auf die Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Sozialen, das hier als eine in der Bewegungsorganisation generierte emergente Ordnung (Luhmann) von In- und Exklusion, von Marginalisierung und Macht, aber auch von Subversion, Transformation oder Revolution gedacht werden kann. Die grundlegende Behauptung, die in dem Begriff „soziale Choreografie“ steckt, ist, dass in der choreografischen Ordnung des Sozialen eine politische Dimension steckt und diese in der Bewegungsordnung der Körper ihren sichtbaren Ausdruck findet.
Soziale Choreografie als konkrete, historisch wandelbare emergente Ordnung bezieht sich auf eine körperliche Praxis, die eine performative Ordnung des Sozialen herstellt, die als ästhetische und soziale Praxis gleichermaßen lesbar wird. Das Konzept der sozialen Choreografie thematisiert von daher nicht primär das Soziale der Choreografie im Sinne eines sozialen Aspekts des Tänzerisch-Ästhetischen. Vielmehr thematisiert soziale Choreografie die Ästhetik des Sozialen als performative Ordnung von Raum, Körper, Objekten und Materialien.
Soziale Choreografien zeigen sich sowohl in künstlerischen wie auch alltäglichen Aufführungen. Sie existieren nicht unabhängig von räumlichen Gegebenheiten und Architekturen, man denke nur an „Nicht-Orte“ (Augé 2010) wie den Straßenverkehr, die Fußgängerampel, an Bahnhöfe oder Flughäfen oder an Tanzaufführungen im öffentlichen Raum, die an Hauswänden oder auf Dächern stattfinden, wie es Trisha Brown in die Tanzgeschichte prominent eingeführt hat, oder auch an die „Choreographic objects“ von William Forsythe und Dana Caspersen. Sie existieren nicht unabhängig von den in diese Räume eingeschriebenen sozialen Normen, Konventionen und Werten. Folgt man Maurice Merleau-Ponty oder Marcel Mauss sind kulturelle Konventionen mit einer Räumlichkeit und Zeitlichkeit ausgestattet, die dem Körper innewohnt und die er, wie Bourdieu sagt, habitualisiert hat. Die Art des Ausstreckens des Arms bei der Begrüßung oder das Tempo, mit dem jemand alltägliche Tätigkeiten durchführt, sind Beispiele dafür.
Es wäre aber verkürzt anzunehmen, dass Körper in Bewegung die habitualisierten sozialen Strukturen und kulturellen Konventionen lediglich reproduzieren und damit stabilisieren (vgl. Nickl 2005), indem sie z.B. den choreografierten Ordnungen als „Gesetz“ (Siegmund 2010:94-104) folgen. Umgekehrt sind Körper aber auch nicht euphorisch als die letzte Bastion des Widerstands gegen soziale Ordnungen und Bewegung als Unterlaufen, Intervention oder als mikropolitische Strategie gegen die Ordnung beschreibbar. Körper und körperliche Praktiken haben vielmehr eine Eigenlogik, die jenseits von Kognition und Reflexion eigenständig agiert. Ohne den (Um-)Weg über das Bewusstsein zu nehmen, bilden Körper ‚Zwischen-Leiblichkeiten’ und interkorporale Strukturen heraus. Gerade darüber stellen Körper choreografische Ordnungen performativ her und unterlaufen sie auch.
Diese interkorporalen Konventionen werden in den sozialen Choreografien performativ hervorgebracht und entfalten dadurch ihre soziale Wirkmächtigkeit. Anders gesprochen: Die choreografische Ordnung von Raum und Zeit bildet den Rahmen, mit Goffman (Goffman 2000) verstanden als Sinnhorizont, für die in der Bewegungsausführung sich aktualisierenden habituellen Dispositionen der Körper.
Genau in diesem Beziehungsgefüge zwischen Bewegungsausführung und choreografischer Ordnung zeigt sich die von Foucault beschriebene Mikrophysik der Macht auf vier Ebenen: in den Raum- und Zeitordnungen sozialer Figurationen, in der Art und Weise, wie Körper in der Bewegung interagieren, in den einzelnen Körpern selbst, die das Soziale habitualisiert haben und zugleich in ihren Bewegungen hervorbringen und schließlich in den Strategien der Beglaubigung choreografischer Ordnungen.
Gerade aufgrund der Verbindung von Ästhetischem und Sozialem wäre es verkürzt, den Begriff „Soziale Choreografie“ nur auf Bewegungsordnungen des Alltags oder auf alltägliche Performances zu beziehen. Vielmehr dient der Begriff auch dazu, eine bestimmte Perspektive auf künstlerische Projekte zu werfen: die Frage richtet sich hier auf das Herstellen sowie auf das Gelingen und Scheitern der Aktualisierung von sozialer Ordnung in der und durch die Bewegungsausführung. Wann und wie unterlaufen künstlerische Interventionen choreografische Ordnungen? Wie intervenieren künstlerische Projekte in diese Ordnungen? Wie generieren sie selbst choreografische Ordnungen? Und wie reflektieren sie diese Ordnungen mit den Mitteln des Ästhetischen? Und welchen Beitrag leisten sie, um Choreografie als Grundlage jeglicher sozialen Figuration und kulturellen Formation zu verstehen? Diesen Fragen werde ich an einem Beispiel, dem „White Bouncy Castle“ von William Forsythe und Dana Caspersen nachgehen.
Soziale Choreografien im Feld der Kunst
Die „choreografischen Objekte“ machen in der Eigenbewegung und -erfahrung aller AkteurInnen eine ästhetische Reflexion möglich, gerade indem sie nicht gegen eine vorgegebene Ordnung intervenieren, sondern sie in interkorporalen Bewegungsaktivitäten erst hervorbringen. So zum Beispiel das „White Bouncy Castle“: Es ist weiß und riesig und dabei luftig leicht: das „White Bouncy Castle“, eine der größten Innenraum-Kunstinstallationen der Welt, die Forsythe und Caspersen 1997 entwickelten. Das „Schloss“ ist eine gut 30 Meter lange und elf Meter hohe Hüpfburg. Es ist ein Objekt, das allgemein bekannt ist von der Kirmes, von Kindergeburtstagen und öffentlichen Events in Shopping Malls und anderswo.
Für Forsythe verkörpert das Bouncy Castle einen „alternativen Choreografieraum“. Hier gibt es weder BetrachterInnen noch ZuschauerInnen, sondern nur TeilnehmerInnen, die auf eine lebensweltliche Erfahrung zurückgreifen, das Hüpfen und Springen. Jeder, der mitmacht, ist Tänzer und Choreograf zugleich. Im gemeinsamen Hüpfen wird eine performative Form der Choreografie geschaffen, die nicht vorgegeben ist, sondern in der intersubjektiven Bezugnahme aufeinander in dem Moment besteht. Sie demonstriert Forsythes Verständnis von Choreografie als einer sozialen Choreografie, wenn er sagt, dass es in Choreografie darum geht:
„Organising bodies in space, or organising bodies with other bodies, or a body with other bodies in an environment that is organised“ (William Forsythe, zitiert in Rosenthal 2011:105).
Das Bouncy Castle ist kein künstlerisches Objekt, das man distanziert betrachtet, und sich, ähnlich wie bei Marcel Duchamps Pissoir, die Frage nach dem Ästhetischen im Profanen, nach dem Verhältnis von Kunst- und Alltagsobjekten stellt. Es ist vielmehr ein Ort, in dem Bewegung, Choreografie und Kunst mit lebensweltlichen Erfahrungen in einem Kunstraum ineinander fließen, die Grenzen zwischen Kunst und Alltag, Lebenswelt und Welt der Außeralltäglichkeit in der und durch die Bewegungserfahrung nicht existieren. Im Hüpfen und Gehüpft-Werden machen alle körperliche Erfahrungen, die sich aus Interaktionen speisen, und das heißt auch immer: aus den (Macht-)Balancen mit den Anderen: So wird in dem Schloss immer auch die Ordnung des Sozialen choreografiert: Als Machtbalance, die (ganz im Sinne des Machtbegriffs von Norbert Elias; vgl. Elias 2009) immer ein (Kampf-)Spiel mit den Anderen ist und sich als Mechanismus der Ein- und Ausgrenzung und der Differenzsetzung von Zentrum und Peripherie zeigt. Genau in diesen Erfahrungen des Profanen erfahren die Teilnehmenden sinnlich-körperlich, dass Ordnungen keine Vor-Schriften sind, sondern performativ und interaktiv in der gemeinsamen Bewegung hergestellt werden.
Tanz und Choreografie: Kulturelle Bildung als Kritik
Das „White Bouncy Castle“ zeigt: Tanz und Choreografie stehen nicht nur für Bewegung und Transformation. Sie können auch in Bewegung bringen und transformierend sein (vgl. Lepecki 2008; Martin 1998). Es ist deshalb kein historischer Zufall, dass zu Beginn des 21. Jh.s Tanz (erneut) zu einem wichtigen Bildungsgut erklärt wird.
In einer fragmentierten und medialisierten Gesellschaft, in der alles kontingent ist, Bilder dominieren und die Differenz zwischen Schein und Sein immer schwieriger auszumachen ist (vgl.Sloterdijk 1998), gelten Körper- und Bewegungserfahrungen dort (wieder) als Basiskompetenzen und Tanz als Medium subjektiver Sinnstiftung und SelbstVergewisserung, wo eine neoliberale Politik der Entstaatlichung und Deregulierung sich vom sozialpolitischen Engagement weitgehend verabschiedet hat und den einzelnen Menschen in die Freiheit – und das heißt im neoliberalen Projekt: in die individuelle Verantwortung der Selbstsorge – entlassen hat.
Wenn auf der einen Seite der ortlose, flüchtige, vergängliche und damit immer abwesende Tanz eine zentrale Metapher einer medialisierten, von Bildern überfluteten, globalisierten Moderne ist und damit affirmativ zum neoliberalen Projekt steht, ist er andererseits als kulturelles Archiv einer „unterirdischen Geschichte des Körpers“ (Horkheimer/Adorno 1971) immer auch Kultur- und Erkenntniskritik – dies gerade in einer praxisorientierten Weise, indem die experimentelle zeitgenössische Tanzkunst Fragen stellt, die weniger das ‚knowing that‘ sondern eher das ‚knowing how‘ betonen: Wie ist Choreografie, wie Bewegung, wie Tanz? Es sind gerade diese praxisorientierten, kollaborativen, performativen Herangehensweisen, die das kulturelle und politische Potential des Tanzes und der Choreografie hervorheben, indem sie mit ästhetischen Mitteln nach dem Ort und Stellenwert des Tanzes im kulturellen Archiv der Moderne fragen. Diese Auseinandersetzung ist immer auch Gesellschaftskritik, ist sie doch ein ästhetisches Experimentierfeld des Sozialen und Kulturellen, das immer auch die Möglichkeit des Anderen, des Utopischen in sich birgt. Tanz und Choreografie gehen nicht in einer binären Logik auf, sind nie das eine oder das andere, sondern ereignen sich im Dazwischen (vgl. Rancière 2008). Und dieses Dazwischen meint auch eine Bewegung zwischen Denken und Gefühl, Bewegung und Bewegtheit, Theorie und Praxis, Wissenschaft und Kunst. Vielleicht liegt gerade in der praktischen, körperlichen Auseinandersetzung mit der Produktivkraft dieses Dazwischen die kulturelle Bedeutung von Tanz und Choreografie als Bildung und Kunst.