In Bewegung setzen – Ethnographie im Feld des Urbanen Lernens
Abstract
Der Beitrag stellt Anwendungsmöglichkeiten ethnographischer Ansätze im Bereich des Urbanen Lernens vor. Neben Grundlagen zur Erforschung materieller und sozialer Umgebungen werden mit Blick auf machtsensible Bildungsprozesse sowie Selbstpositionierungspraktiken und emanzipatorische Selbstorganisation insbesondere aktivistische Interventionen und Projekte sowie eine Folie für die Annäherung an die Forschungspraxis im Urbanen Raum vorgestellt.
„To observe means to watch what is going on around and about, and of course to listen and feel as well. To participate means to do so from within the current of activity in which you carry on a life alongside and together with the persons and things that capture your attention.“ (Ingold 2014:387)
Kulturelle Bildung im urbanen Raum verhandelt die aktive Beteiligung am öffentlichen Stadtraum – oder animiert dazu. Dabei schließt das Urbane Lernen an die alltäglichen Lebenswelten und Raumaneigungsprozesse an, die in unterschiedliche, informelle Bildungsprozesse eingebettet sein können (vgl. Deinet 2010): Doch wer eignet sich mit welchen (normativen oder emanzipatorischen) Setzungen Stadtraum an und warum?
Eine Möglichkeit urbane Aneignungsprozesse zu erkunden, bildet der ethnographische Ansatz – eine situative, prozessorientierte und ergebnisoffene Methode, die in künstlerisch-forschenden oder emanzipatorischen Zusammenhängen eingesetzt werden kann.
In Bewegung setzen
ethnographie (von gr. ethnos: volk und graphein: schreiben - die beschreibung von sozialen verbänden, um- und mitwelten) nutzt teilnehmende beobachtung und beschreibung, um einen lebendigen einblick in soziale welten und deren selbst/verständlichkeiten zu ermöglichen. dabei ersetzt sie die suche nach eindeutigen aussagen durch das begreifen anderer blickwinkel, formulierungen und positionierungen. (büro eta boeklund)
Im Zentrum des ethnographischen Ansatzes steht die »Bewegung«. Ethnograph*innen setzen sich selbst in Bewegung und begeben sich ins »Feld« – in neue Kontaktzonen und Wahrnehmungsfelder. Dabei versuchen sie insbesondere vertraute Wahrnehmungen zu durchbrechen, um anders zu hören, zu fühlen, zu sehen sowie anders darzustellen. Zentral dabei ist ein transformativer Zugang zu »anderen Sichtweisen« und die machtsensible Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen sowie Praktiken der Selbstpositionierung (vgl. u.a. Fabian 1986). Ethnographie unterteilt sich traditionell in die Praxis der Teilnehmenden Beobachtung sowie das Be/oder Abschreibens des Forschungsgegenstandes als Ethnographisches Schreiben. Im Gegensatz zum akademischen Kontext werden die folgend genannten Ansätze der Ethnographie hier mit Blick auf ihr Potential und ihre Anwendung in den Bereichen künstlerische Forschung und forschendes Lernen behandelt.
Den Perspektivenwechsel »anders wahrnehmen zu können« erbt die Ethnographie von der Ethnologie: Im Rahmen dieser »Lehre des Fremden« wurde das Erkunden und Beschreiben traditionell per teilnehmender Beobachtung »vor Ort« am Bild der »Anderen« entwickelt.
Der Blick auf das »Andere« und darin liegende Dominanzverhältnisse zwischen Forscher*innen und Beforschten wurden in den 1970/80er Jahren zum Ausgangspunkt einer neuen Cultural Anthropology (vgl. Marcus/Fisher 1986). Aus der dort geübten Selbstkritik entwickelte sich ein Fokus auf die (Selbst-)Reflexion des Forschungsprozesses – die reflexive Wende des Fachs: Wer erhebt die Daten mit welchen Mitteln, in welchem Kontext und mit welcher Intention? Wie steht es um die ungleichen Machtverhältnisse und Fremdzuschreibungen? Das heißt – wer verfügt über die Definitionsmacht »die Welt der anderen« darzustellen und wie wird dies getan? (ebd., vgl. auch Fabian 1983, Said 1978).
Die reflexive Wende führte im Anschluss unter anderem dazu, dass ethnographische Strategien zur emanzipativen Selbstbeforschung und kollaborativen Forschungs- und Repräsentationformen von marginalisierten Gruppen und Verbänden genutzt werden, um kommunale und soziale Bewegungen zu formen oder zu unterstützen und Artikulationsmöglichkeiten zu schaffen (vgl. Burri et al. 2014). Daneben begannen sie sich ebenfalls als Mittel des forschenden Lernens sowie künstlerischer Forschungsansätze zu etablieren (ebd.). Im Zentrum steht dabei ein reflexives Vorgehen, das einen transformativen Zugang zu »anderen Sichtweisen« erlaubt und sich u.a. einer machtsensiblen Auseinandersetzung mit Definitionshoheiten und gesellschaftlichen Normen sowie Praktiken der Selbstpositionierung beschäftigt (vgl. auch Raelin 2001). Das Paradigma der Selbstreflexion – auf die eigenen Darstellungsmedien wie auf den (vorgelagerten) Prozess der Wissensproduktion – verbindet die Praxen der Ethnographie und der künstlerischen Forschung. Die lange Geschichte herrschaftskritischer und emanzipatorischer Wissensproduktion spielt allerdings in den zahlreichen Diskussionen zu künstlerischer Forschung nur selten eine Rolle (vgl. Mörsch 2015).
Perspektivenverschiebungen und Transformationen
Das ethnographische Vorgehen ist ein interaktiver Prozess: Die ethnographisch-forschende Bewegung durch soziale und phänomenologische (Stadt-)Landschaften, die »teilnehmende Beobachtung«, basiert auf sensorischem wie sozialem Kontakt und dem Sammeln von Erfahrungen, die eine andere Betrachtung des Gewohnten ermöglichen (vgl. Ingold 2002).
Hier geht es um den Blick auf Alltägliches, das Hineinhören in soziale Selbstbeschreibungen, die Beobachtung und Teilnahme an sozialen Praktiken innerhalb eines Forschungsfeldes. Dabei verbinden sich mikroskopische Alltagsbeobachtungen mit informellen Gesprächen, qualitative Interviews mit unterschiedlichen Akteuren mit Themen- und Archivrecherchen, Entwürfe mit dem regelmäßigen Befragen des Forschungsprozesses wie auch der Ergebnisse; das ethnographische Vorgehen ist so auch stets ein ästhetisches Vorgehen, das eine kritisch-reflexive Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit als alternative Wissens- und Erkenntnisquelle anstrebt (ebd.).
In einem solch kollaborativ ausgerichteten Prozess greifen die Forschenden aktiv – und je nach politischem Willen durchaus bewusst – in Verräumlichungsprozesse ein und gestalten sie mit. Im Rahmen der Kulturellen Bildung im Stadtraum kreist dies häufig um emanzipatorische Fragen oder solchen nach allgemeinen Normen: Wie lebe ich in der Stadt? Wie leben wir zusammen? Wie und wo sind Orte und Räume sozial reguliert? Welche Gruppen markieren die Stadt – und wie? Und wo liegen Möglichkeiten oder Beispiele für die Gestaltung eigener Räume – im Großen wie im Kleinen?
Eine erste sensorische Annährung an das Gewohnte eröffnet das Nachspüren bestimmter Merkmale im Stadtraum, wie zum Beispiel entlang verschiedener Formen des »Dérives«. Die Situationist*innen um Guy Debord entwickelten in den 1950er Jahren sogenannte Dérives, ein zielloses Umherschweifen in der Stadt, als Strategie zur Untergrabung von Wahrnehmungsroutinen (vgl. McDonnough 2009). Scheinbar ziellos herumschweifend geht es um eine Sensibilisierung und Neubetrachtung des Gewöhnlichen: Wo ist es hell? Wo ist es laut? Wie fühlt es sich an, wenn ich durch die Straßen tanze? Oder als bewusst inszenierte Störung durch Formen des sozialen (Krisen-)Experiments, das soziale Abläufe und Strukturen des Alltäglichen sichtbar werden lässt (vgl. Garfinkel 1973). Hier können als „Erziehung zur Aufmerksamkeit“ (Ingold 2002) Wahrnehmungen verschoben und der Blick für selbstverständliche, meist unbewusst befolgte Regeln sozialer Abläufe sensibilisiert werden (siehe die Handlungsideen am Ende dieses Textes).
An eine solche Perspektivenverschiebung lassen sich systematische Beobachtungen und Skizzen anschließen, die im Rahmen einer ethnographischen Raumanalyse Aufschluss geben über Muster, physische Strukturen, Infrastruktur und Materialität der gebauten Umwelt, die Interaktionen, Organisationsformen und Dramaturgien oder, mit Fokus auf soziale Phänomene, Selbstdefinitionen und -wahrnehmungen verschiedener Akteure im urbanen Raum (vgl. auch Funke-Wieneke & Klein 2008).
So finden sich z.B. hinter Metrolinien (Augé 2002), Straßenampeln (Rulfs 2004), Abwasserkanälen (Sloterdijk 1999) oder Partykulturen (Schwanhäußer 2010) – Einblicke in soziale Praktiken, die weit in die Verquickungen von Städtischem und Individuellem hineinwirken.
Phänomene lassen sich auch nach dem Prinzip der „multi-sited ethnography“ (Marcus 1995) über verschiedene Stationen und Orte hinweg erkunden: Folge einer Person, einem Produkt, einer Geschichte, Metapher, einem Plot oder einem Konflikt. Verfolgbar sind per auto-ethnographischer Untersuchung auch Markierungen des Gesellschaftlichen oder Städtischen an den Forschenden selbst (vgl. Preciado 2015); eine Spurensuche lässt sich auch von der »Para-Site« aus, über einen Seitenblick auf das Gewohnte, bewältigen (vgl. Marcus 2000) oder per Rhythmusanalyse (Lefebvre 1992) auf das Zusammenspiel von wahrgenommenen Harmonien und Dissonanzen im Raum.
Über ein aufmerksames Zuhören mit allen Sinnen, das heißt die fortlaufende Verflechtung von Beobachtungen, Gesprächen und Interviews sowie die Auseinandersetzung mit eigenen und anderen Meinungen oder Wahrnehmungen im »Feld« (vgl. Back 2006) entwickeln sich im Forschungsverlauf fluide Skizzen. Je dichter die Informationen, desto mehr stabilisiert und formt sich im fortlaufenden Rechercheprozess der Forschungsgegenstand; dies kann entlang von Themensträngen geschehen, aber auch von Schlagworten oder charakteristischen Handlungen, die auf soziale Markierungen in Stadtraum und Praxis hinweisen (vgl. Dreßler 2008:18ff).
Eine der vielen Darstellungsmöglichkeiten dafür sind Kartierungen oder auch »mappings«: Mental maps, graphische Skizzen, Tabellen oder Pläne ebenso wie Zeichnungen, die zur Darstellung und Evaluation von Strukturen, Funktionen oder auch imaginärer Szenarien dienen. Während Kartierungen einerseits komplexe Phänomene reduzieren, bergen sie andererseits eine performative Funktion, nämlich Interpretationen zu verstärken oder sie auch umzuwenden. Kartierungen werden in Ethnographie, Sozialforschung und zeitgenössischer Kunst u.a. dazu genutzt, Phänomene abzubilden, zu beforschen und/oder die eigene Verortung zu analysieren (vgl. Kollektiv Orangotango, Heil 2007, Muhr 2012).
So wurden z.B. im Rahmen von „Prostranstvo Novosbirsk“, einem zweijährigen Projekt des Goethe-Instituts in Novosibirsk nach Ideen von Angela Dreßler und Livia Maria Andreas, produziert von Anna Malkowski 2009/2010, die ethnographischen Erkundungen des Stadtraums angehender Stadtplaner*innen und Architekt*innen in verschiedenen aufeinanderfolgenden Schritten (u.a. Derives, Diskussionen und Archivrecherchen) als Notationen skizziert. Diese untersuchten der Choreograph Richard Siegal und eine Gruppe von Tänzer*innen dann mit den ästhetisch-korporealen Mitteln des Tanzes und gaben sie als Intervention in den öffentlichen Raum zurück. „Im postsowjetischen Kontext, wo der öffentliche Raum einem strengen Verhaltenskodex unterworfen ist, entsteht eine eigene, neue Wahrnehmung von urbaner Gemeinschaft“ (Ebert 2013), die im Projekt im Sinne einer Social Art öffentlich zur Diskussion gestellt wurde, um transformierend zu wirken.
Raumentwürfe
Die aktiv(istisch)e Beforschung des Stadtraums ist in der Sozialforschung an Fragen zur politischen Teilhabe und Partizipation gebunden. Eines der tragenden Konzepte dazu proklamierte Henri Lefebvre (1974). Nach Lefebvre wird der urbane Raum gesellschaftlich produziert und ist von Konflikten um die Produktionsbedingungen gezeichnet; seine Analyse ist immer auch eine Analyse bestehender gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Wer formt den Raum, in dem wir uns bewegen? Dies reicht von Straßen- und Bauplanung über die Taktung von Straßenbeleuchtung oder generell Besitzverhältnissen in der Stadt.
„Das Recht auf die Stadt lässt sich nicht begreifen als ein einfaches Besuchsrecht oder ein Recht auf Rückkehr in traditionelle Städte. Man kann es nur als Recht auf ein städtisches, transformiertes, erneuertes Leben formulieren.“ […] „Das Recht auf die Stadt äußert sich als eine höhere Form von Rechten: Recht auf Freiheit, auf Individualisierung in der Vergesellschaftung, auf Wohnraum und Wohnen. Im Recht auf die Stadt sind eingeschlossen das Recht auf das Werk (auf eine teilhabende Aktivität) und das Recht auf Aneignung (wohlunterschieden vom Recht auf Eigentum).“ (Lefebrvre 1968:125f)
Lefebvres Forderung nach einem „Recht auf Stadt“ (Lefebvre 1968) gegen eine räumliche und soziale Trennung in Städten wurde mit dem Spatial Turn (Bachmann-Medick 2009) auch im deutschsprachigen Raum verstärkt aufgegriffen (z.B. Mölders/Kühnemann 2017:286f). Als Ansatzpunkt für Kritik an top-down Ansätzen in der Stadtplanung findet diese Position regen Widerhall in vielen Initiativen (marginalisierter) Gruppen in urbanen Räumen (s.u.).
Gleichzeitig entwickelte sich in der letzten Dekade mit Blick auf die Produktion des Politischen ein reges Interesse von Forschenden an der Straße und generell dem Öffentlichem als (Protest-)Raum u.a. mit Blick auf Occupy Wallstreet, den Protesten gegen das internationale Handelsabkommen TTIP oder die Austeritätspolitik der EU in Südeuropa oder den Tottenham Riots im August 2011 in London (vgl. auch Sassen 2006, Zizek 2012).
Allgemein richtet sich das Forschungsinteresse auf die verschiedenen urbanen Aneignungsformen und Setzungen im Rahmen von politischen Protesten und künstlerischen Interventionen, zum Beispiel zu Gentrifizierung oder anderen Ausschlüssen spezifischer Bevölkerungsgruppen. Auch werden seit den 1970er Jahren die scheinbar unpolitischen urbanen Lifestyles und Jugend- und Subkulturen beforscht, die mit ihren Praktiken auch die Produktion von Stadtraum und Öffentlichkeit kritisch befragen und gleichsam neu entwerfen.
Kulturelle Jugendbildung und Urbanes Lernen
Im Sinne einer kritischen Befragung von Stadt kommen im Rahmen der kulturellen Jugendbildung speziell jugendkulturelle Aktivitäten in den Blick. Jugendliche eigenen sich öffentlichen urbanen Raum mit jugendkulturellen Formen an. Besonders augenfällig ist dies bei den aus dem HipHop stammenden Kunstformen des Graffiti Writing bzw. der Urban/Street Art, aber auch in der Rapmusik (vgl. Schmidt 2005, Klitzke/Schmidt 2010, Janitzki 2012). Die Entstehungsgeschichte der Jugendkultur HipHop in den 1970er Jahren New Yorks ist eng mit der Ghettoisierung des Stadtteils South Bronx durch den Bau einer vierspurigen Autobahn mitten durch den Stadtteil verbunden (vgl. Rose 1997). Bald haben sich aber auch an der Westküste der USA und andernorts HipHop-Szenen entwickelt. In Deutschland war „in den Anfangszeiten [der 1990er Jahre] [..] der Bezug der HipHop-Crews auf die Städte gerichtet, wie Berlin, Stuttgart, Heidelberg, Frankfurt und Köln, während es heute mehr einzelne Stadtquartiere sind [...], die in den Rap-Lyrics zum Bezugspunkt werden“ (Saied 2012:107).
Der Bezug auf die Stadt bzw. das urbane Quartier geschieht im Rap über Texte und Videos. Rap thematisiert oft die Situation räumlich marginalisierter Jugendlicher in Großstädten, wobei die defizitäre Beschreibung von »sozialen Brennpunkten«, auch in Verbindung mit ethnisch-kulturellen Stereotypisierungen provokant aufgegriffen wird – zur Auseinandersetzung mit Repräsentationsmustern ethnischer Identität im frühen HipHop in Deutschland ( vgl. Menrath 2001). Heute sind die Identifikationsangebote und Theatralisierungen vor allem im Gangsta-Rap durchaus umstritten (vgl. Dietrich/Seeliger 2012), sowohl in der medialen Öffentlichkeit als auch innerhalb der Szenen.
Szenemitglieder aus solchen stark auf das Urbane bezogenen Jugendkulturen sind durch ihre Erfahrungen selbstverständliche Expert*innen des Urbanen Lernens. Doch jugendkulturelle Selbstbildung in der Stadt vollzieht sich wie in Jugendkulturen allgemein (vgl. Schmidt 2012) eher „unsichtbar nicht nur für die Augen von Bildungspolitikern, sondern weitgehend auch für die Szenegänger selber, da Kompetenzen hier [...] überwiegend doch in eher beiläufigen Entwicklungs und Aneignungsprozessen erworben werden“ (Hitzler/Pfadenhauer 2004:86). Derart informelles kulturelles und politisches Lernen sichtbar zu machen, kann Aufgabe und Ergebnis ethnographischer Forschung in der Stadt sein.
Stadt-Machen
Durch Ethnographie kann nicht nur Bewegung registriert, sondern diese auch angewandt in den Gesellschaftsdiskurs eingebracht werden (vgl. Burri et. al 2014). Viele der aktuellen Arbeiten im Bereich der Kulturellen Bildung ebenso wie der Künstlerischen Forschung verbinden die Betrachtung dominanter Strukturen und Praktiken im Stadtraum mit Strategien der Selbstbeforschung und Selbstverortung (ebd.). Das eigene Fach- und Alltagswissen sowie Profilierungen durch soziale Zugehörigkeiten oder Lifestylepraxen werden als Mittel der Selbstorganisation und zur politischen Emanzipation genutzt. Die Projekte reichen von temporären Interventionen bis zu langfristig angelegten Eingriffen in die Neustrukturierung des Nachbarschaftsgefüges oder den Erhalt von Wohnquartieren und gehen häufig durch alle Altersgruppen – als Beispiel sei hier auf die facettenreiche Mieter und Anwohner*innen-Initiative Kotti & Co in Berlin verwiesen oder das Engagement von Berlin Postkolonial.
So hat bspw. eine Studierendengruppe der Hochschule Esslingen die (kulturelle) Selbstverortung verschiedener Jugendlicher in Stutttgart über eine einjährige Feld- und Interviewstudie erforscht (Projektgruppe JugendArt/Möller 2010). Die im Ergebnis vielfältigen, kulturell-künstlerischen Interessen der Jugendlichen und verschiedenen lokalen, auch migrantisch geprägten Jugendkulturen wurden schließlich auf einer mit dem S-Bahn-Plan der Stadt überlagerten Karte erfasst (Projektgruppe JugendArt/Möller 2010:7). Mit Hilfe der Studienergebnisse wurde so die Stadt Stuttgart neu kartiert und bestehende Typisierungen von Stadtquartieren bewusst durch neue Identifikationen überschrieben und umgedeutet: z.B. zum „Futbol Stadl”, „Barrio Latino” und zum „Melting point” (ebd.).
Auf die (selbstbe)forschende Beteiligung aller Altersgruppen setzt die »Planbude« auf Sankt Pauli in Hamburg. Gegen Immobilienspekulation und eine Stadtentwicklungspolitik ohne Teilhabe der Bewohner*innen steht dort die Bedürfnisorientierung »von Unten«: „Make bottom-up funky“ wirbt die Planbude für eine selbstorganisierte, transdisziplinäre Stadtplanung, die sich am „Wissen der Vielen“ (vgl. Konzept der Planbude) orientiert und dieses anders als gewohnt zusammenträgt – per Künstlerischer Forschung, Wunschproduktion, Protest ebenso wie wissenschaftlicher Begleitforschung (ebd.). Weitere Beispiele sind hier u.a. die Bewegung »Recht auf Stadt», das 1997 auf der documenta X präsentierte partizipative Stadtgestaltungsprojekt »Park Fiction«, der »Megaphonchor« oder der 2017 eröffnete »Arrivati Park« ebenso wie der Forschungsbereich »Versammlung und Teilhabe« der HafenCity Universität, der sich mit sozialwissenschaftlichen sowie künstlerisch-forschenden Methoden partizipativen Formen und Entwürfen gesellschaftlichen Engagements widmet (vgl. Burri et al. 2014).
Einen ähnlichen Ansatz verfolgte die wohnwut-Kampagne 2013/14 in Berlin. In diesem Prozess erfragten Jugendliche peer-to-peer die Wahrnehmung und Wünsche in ihrer Stadt. Wie Jugendliche ihre Lebens- und Wohnsituation in der Stadt erleben, wurde hier nicht nur dokumentiert, sondern auch zum Anlass für das Formulieren von Visionen und das Einfordern einer sensiblen Stadtentwicklung.
Für eine altersunabhängige Teilhabe und ein umfassendes Recht auf Stadt jenseits von Pass und Aufenthaltserlaubnis beforschte das Performancekollektiv Schwabinggrad Ballett/Arrivati die Entwicklung migrantischer Selbstorganisation am Beispiel des 2014 aufgelösten Refugeecamps auf dem Berliner Oranienplatz. „Die Chöre der Angekommenen. Indiskrete Platzbefragung“ dokumentiert und analysiert Zeitzeugenberichte aus dem Camp sowie des angrenzenden Wohngebiets und anderer städtischer Akteure und trägt sie demonstrativ in den öffentlichen Stadtraum Berlin-Kreuzberg sowie die kommunale Kulturpolitik zurück.
Ethnographie im Urbanen Lernen
Ethnographisches Erkunden des eigenen Stadt- und Lebensraums kann im Rahmen des Urbanen Lernen als forschendes Lernen oder als künstlerische Forschungspraxis mit Blick auf Selbstbildung und emanzipatorische Selbstorganisation eingesetzt werden. Die Möglichkeiten ethnographischer Ansätze reichen dabei von der Beforschung der materiellen und sozialen Umgebung, über kurzfristige aktivistische Intervention bis hin zu langfristig angelegten Nachbarschaftsprojekten mit verschiedenen Altersgruppen. Das reflexive Vorgehen der Ethnographie befördert dabei machtsensible Bildungsprozesse sowie Selbstpositionierungspraktiken.
Handlungsräume - Anregungen zur Umsetzung
Lebensweltlich-ethnographische Methoden veranlassen uns also, die eigene Stadt aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. Nachfolgend eine Sammlung von Handlungsideen für Urbanes Lernen in der Kulturellen Bildung:
Perspektiven verschieben
// Derive-Variationen
- Als Blind Walk: Lass Dich mit verbundenen Augen von einer Person durch die Stadt führen. Sprich mit niemandem. Konzentrier Dich auf Deine Sinneseindrücke.
- Fahr mit verbundenen Augen auf dem Fahrradsitz mit.
- Achte auf eine bestimmte Farbe! Auf Werbung! Auf alles in 30cm oder 5m Höhe! Wie sieht die Stadt 3m unter den eigenen Füßen aus? Wo gibt es Blumen? Wo Tiere? Und welche?
- Verfolge die hellen und die dunklen Seiten der Stadt! Die lauten und die leisen ... die geruchsintensiven und – neutralen ...
// Soziale Experimente
- Tanz durch die Straßen. Löse Parktickets für Blumenkästen.
- Versammelt euch! Tragt großformatige Buchstaben durch die Straßen und bildet Worte. Hört dasselbe Lied zur selben Zeit per Kopfhörer.
- Bleibt zur vollen Stunde stehen und rührt Euch eine Minute nicht.
- Fragt Passant*innen, ob sie glücklich sind.
- Verkleidet euch und bewegt euch durch die Stadt.
- Stellt euch vor, bestimmte Straßen wären für den Verkehr gesperrt, und bewegt euch entsprechend.
- Stellt Sofas neben Eingangstüren.
Spuren suchen
// Bewegungsmuster
- Wie bewege ich mich mit einem Monatsticket? Wie mit einem Auto? Einem Skateboard? Zu Fuß?
- Wo kann ich mich wann mit welchen Tätigkeiten im Stadtraum aufhalten? Einzeln, als Gruppe, als Esel, Statuen, Kinderwagen, Rocker, Punk, Minderjährige/r, Papierlose/r etc.
- Wie eignet sich das Terrain für eine Verfolgungsjagd?
- Skizziert die Biographie eines Ladens, von Statuen, Denkmälern, Orten im Viertel ebenso wie Personen und Dingen – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
// Multi-sited
- Verfolgt die Herkunft von Produkten im Supermarkt.
- Ordnet die Auslage von verschiedenen Buchläden geographisch.
- Erfragt die Sprachkenntnisse der Passant*innen auf der Straße, ggf. auch jene Sprachen, die sie gerne sprechen können würden.
- Erfragt, wo die Menschen gelebt haben oder gerne leben würden.
// Sofareisen
- Vergleicht die städtebauliche Geschichte von drei Städten (z.B. Accra, Paris und Hassan Kevf). Wer hat was gebaut oder umgebaut und warum?
Darstellen & Handeln
// Kartierungen
- Zeichnet Karten eurer Bewegungen durch die Stadt.
- Legt andere Pläne über eure z.B. U-Bahn-Pläne, Karten aus dem Stadtarchiv zu alten Bebauungsplänen, über den Verlauf von Kanalisation, Karten zu Luftverschmutzung oder Demographie, etc.
- Befragt Expert*innen und gruppiert die Ergebnisse zu neuen Karten.
- Stellt ein Portrait eures Stadtviertels zusammen – aus Popsongs, Filmzitaten, Eigenbezeichnungen etc. Lasst Nachbar*innen und Anwohner*innen das Portrait ergänzen. Schickt das Material zu Freund*innen nach Nairobi oder New York. Oder zu eurer Großmutter.
- Zeichnet eine Karte eurer Lieblingsstraße! Beschreibt und dokumentiert alle Orte ganz genau und besucht die Straße danach: Erkennt ihr sie wieder? Und wie ist das, wenn andere die Karte lesen?
// Wunschproduktion
- Bestimmt einen Ort in der Stadt und re-konstruiert diesen Ort nach euren Vorstellungen. Was sind die Wünsche der anderen?
// Repräsentations-Check
- Was unterscheidet das Lesen eines aufgeschriebenen Interviews vom Hören des Originals? Oder vom nachgesprochenen? Was passiert, wenn ich Szenen re-enacte? Was, wenn die Dargestellten im Publikum sind, respektive wenn sie es ganz sicher niemals mitbekommen? Wie steht es mit meiner Verantwortung den Dargestellten gegenüber? Welche Schwierigkeiten haben ich bei der Darstellung – was verstehen andere nicht und warum?