Benachteiligung und Teilhabe im Kontext von Kultur- und Musikpädagogik
Ortsbestimmungen
Der Ort der Musik im Kontext von Kulturpädagogik und Benachteiligung ist zunächst einmal alles andere als klar. Klärungsbedürftig ist dabei mindestens:
(a) was hier unter Kultur verstanden werden soll,
(b) von welcher Musik in diesem Zusammenhang eigentlich die Rede ist,
(c) welcher Begriff von Benachteiligung vor diesem Hintergrund sinnvoll zugrunde gelegt werden kann,
(d) in welcher Weise eine solche Benachteiligung der pädagogischen
Bearbeitung
(e) in welchem institutionellen und organisatorischen Rahmen zugänglich ist.
Dass es sich hier nicht um semantische Spitzfindigkeiten handelt, sondern um unumgängliche Überlegungen, macht vielleicht ein Blick auf einen älteren Text aus der Musikdidaktik deutlich, nämlich Michael Alts „Didaktik der Musik“ von 1968, geschrieben also in der Zeit der großen bundesdeutschen Bildungsreform. Nach Alts damaliger Situationsbeschreibung
gewinnt die demokratische Forderung ständig an Gewicht, jeden Menschen an Kultur und Kunst teilhaben zu lassen und ihm die Gleichheit der Chancen durch eine breite Streuung der Bildung zu ermöglichen. Bildung ist nicht mehr eine sozialständische Kategorie exklusiver Art, sie ist auf Mitmenschlichkeit und Gesellschaftlichkeit des Menschen gerichtet und erstrebt einen Austausch zwischen den Niveaus und den unterschiedlichen Gruppen der Gesellschaft mit aufwärts gerichteter Tendenz (Alt 1968:17).
Alt versteht seine Didaktik offenkundig als einen Beitrag zur Chancengleichheit in einer demokratischen Gesellschaft, geht also von einer Form tatsächlich existierender Benachteiligung aus. Diese Benachteiligung stellt sich für ihn als Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen von musikalischer Bildung dar. Bildung wiederum ist hier sowohl mit der Idee sozialer Kohärenz, als auch mit der des sozialen Aufstiegs verknüpft. Alt wendet sich dabei explizit gegen die Trennung von ‚Volksbildung‘ (incl. ‚volkstümlicher Musik‘) und ‚höherer Bildung‘; er vermutet in der Volksbildung sogar eine „Gefahr für den sozialen Aufstieg“ (ebd.:18). Chancengleichheit, so stellt sich heraus, bedeutet hier im Wesentlichen: Gleicher Zugang für alle zu den großen Werken bürgerlicher Kunstmusik. Dass dieser Zugang nur oder jedenfalls in erster Linie in der Institution der Allgemeinbildenden Schule stattfinden kann, ist für Alt dabei selbstverständlich, nicht zuletzt, weil nur hier dem kontingenten alltäglichen Umgang der Kinder und Jugendlichen mit Musik ein Korrektiv zur Seite gestellt werden kann.
Alt vertritt demnach einen Begriff von Kultur, der (a) im Wesentlichen der Hoch-Kultur verpflichtet ist. Musik ist dementsprechend (b) vor allem abendländische Kunstmusik. Benachteiligung stellt sich (c) als sozial bedingter Ausschluss von bestimmten Bildungsinhalten und –abschlüssen dar, die formal wie inhaltlich wiederum die Chance zum sozialen Aufstieg implizieren. Und schließlich verspricht sich Alt von der Wendung zur (d) ‚Kunstmusik für alle‘ in der Allgemeinbildenden Schule (e) einen Beitrag zur Chancengleichheit, dem er in Gestalt seiner didaktischen Konzeption – die ihren Schwerpunkt im Musik-Hören hat – zur Realisierung verhelfen möchte.
Ganz offenkundig ist weder der Kultur- noch der Musikbegriff dieses Ansatzes noch mit guten Gründen aufrecht zu erhalten; hier dürften sich musikbezogene Kulturpädagogik und schulische Musikpädagogik mittlerweile weitgehend einig sein. In einer entsprechend weiten Definition lässt sich Kultur z.B. bestimmen als „die von Menschen hervorgebrachten Einrichtungen, die zwischenmenschlichen, vor allem die medial vermittelten Handlungs- und Konfliktformen sowie deren Werte und Normenhorizonte“ (Böhme et al. 2000:104). Folgt man dem "Handbuch der Kulturwissenschaften" (Jaeger/Liebsch 2004), so bilden Begriffe wie Erfahrung, Sprache, Handlung, Geltung, Identität oder Geschichte den losen kategorialen Rahmen, mit Hilfe dessen Kultur analysiert werden soll. Insgesamt zielen die Kulturwissenschaften darauf ab, „die impliziten, in der Regel nicht bewussten symbolischen Ordnungen und Codes und Sinnhorizonte zu explizieren, die in unterschiedlichen menschlichen Praktiken (…) zum Ausdruck kommen und diese ermöglichen“ (Reckwitz 2004:2). Musik erscheint vor diesem Hintergrund nicht als Ansammlung bestimmter Gegenstände (Werke), sondern vielmehr als je besondere Handlungs- und Erfahrungsform, die sich durch einen spezifischen Symbolcharakter und eine spezifische Sinnhaftigkeit auszeichnet, so dass es grundsätzlich sinnvoll erscheint, von Musiken im Plural zu sprechen. Musikpädagogisch wird dies besonders virulent, wenn es um interkulturelle (Barth 2008), aber auch wenn es um intrakulturelle (Kautny 2010) Ansätze geht, die sich nicht auf einen normativ festgelegten Kulturbegriff versteifen möchten.
Die Tendenz, Musik vor allem als Tätigkeit oder Handlung zu beschreiben, ist dabei musikdidaktisch grundsätzlich nicht neu. Verbreitet (in Variationen) sind hier die von D. Venus seinerzeit so bezeichneten musikalischen „Verhaltensweisen“ Produktion, Reproduktion, Rezeption, Transposition von Musik sowie Reflexion über Musik (vgl. Venus 1969:21f.). Hier handelt es sich allerdings um isolierte Tätigkeiten, die nicht vor dem Hintergrund eines kulturellen Sinnhorizontes entfaltet werden. Begriffe wie Handlung oder Erfahrung dienten in der Folgezeit der Musikdidaktik dazu, diese Beschränkung zu überwinden. Der kulturellen Einbettung von Musik am nächsten kommen vermutlich derzeit Ansätze, die musikalische Tätigkeiten als ästhetische Praxis bestimmen. So wird z.B. im Anschluss an die Arbeiten des Philosophen Martin Seel musikalisch-ästhetische Praxis als Oberbegriff für ein „experimentierendes Verhalten zu uns selbst“ (Seel 1996a:21) im Medium der Musik bestimmt (ein alltagssprachlicher Gebrauch von „ästhetischer Praxis“ findet sich z.B. noch bei Weber 2001. Hier ist die Diskussion inzwischen deutlich differenzierter geworden; vgl. etwa Jäger/Kuckhermann 2004). Zwar ist nun ästhetische Praxis vordergründig auch als rein individuelles Geschäft denkbar; im Hinblick auf die vielfältigen musikalischen Praxen Jugendlicher bietet es sich jedoch an, hier vor allem die Formen musikalischer (besser: musikbezogener) Jugendkulturen in den Blick zu nehmen und pädagogisch zu reflektieren (vgl. etwa Wallbaum 2007). Andere Ansätze greifen auf den (genuin nicht-ästhetischen) Praxisbegriff der aristotelischen Tradition zurück, um damit auf die sowohl ethische, als auch soziale Dimension von musikalischer Praxis hinzuweisen, die im alltagssprachlichen Verständnis von Praxis als reinem Musikmachen entweder übersehen (vgl. Kaiser 2011), oder auf vorgeblich soziale Wirkungen reduziert wird (vgl. Vogt 2004) (der Einfachheit halber werde ich im Folgenden nur von „musikalischer Praxis“ sprechen, ohne auf die Differenzen weiter einzugehen).
Während also hinsichtlich des Kultur- und Musikbegriffes eine Öffnung zu konstatieren ist, über die von Musik- und Kulturpädagogik vermutlich recht schnell Konsens herzustellen sein könnte, bleiben in der institutionellen Situierung beider Disziplinen deutliche Unterschiede bestehen, auch wenn nicht ausgeschlossen ist, dass sich z.B. die schulisch ausgerichtete Musikpädagogik (die Begrifflichkeiten sind hier alles andere als klar. Schulisch orientierte Musikpädagogik tritt an Universitäten zumeist als Musikdidaktik in Erscheinung, an Musikhochschulen auch als Schulmusik. Zum Vorschlag, Musikpädagogik als übergeordneten Begriff zu verwenden, der sich dann in besondere Theorie- und Praxisfelder ausdifferenziert, und dem auch eine Allgemeine Musikpädagogik zuzuordnen ist, vgl. Vogt 2004a. Der vorliegende Text versteht sich als Beitrag zu einer solchen Allgemeinen Musikpädagogik) selbst als kulturpädagogisch versteht, die Kulturpädagogik Kooperationen mit der Allgemeinbildenden Schule anstrebt (und umgekehrt) oder beide ihr gemeinsames theoretisches Dach im Bezug auf klassische Bildungstheorie(n) und ihre ästhetischen Aspirationen finden könnten (vgl. etwa Fuchs 2008c).
Da Bildungsabschlüsse aber allein über die Schule vergeben werden, bleibt die Kulturpädagogik von der Zuweisung formaler Bildungschancen ausgeschlossen. Wenn es ihr folglich um die Bearbeitung von Benachteiligungen geht, so kann sich die Kulturpädagogik nicht, wie noch M. Alt, auf die Idee des sozialen Aufstiegs qua Leistung konzentrieren (dass dies auch für die Musikdidaktik ein andauerndes Problem darstellt, vgl. etwa die Beiträge in Schäfer-Lembeck 2008, steht auf einem anderen Blatt). Benachteiligung wird daher in kulturpädagogischen Diskursen vor allem als Form der Ausgrenzung thematisiert, genauer als Ausgrenzung von Jugendlichen von der Teilhabe an bestimmten Formen musikalischer Praxis, die in dieser Form von den Allgemeinbildenden Schulen nicht angeboten werden bzw. nicht angeboten werden können. Während die Institution der Allgemeinbildenden Schule von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung für die Gewährung (und Herstellung) von Chancengleichheit ist und bleibt, muss die Kulturpädagogik vor allem dort ansetzen, wo Defizite und Grenzen der schulischen Arbeit diagnostiziert, vermutet oder manchmal einfach auch nur behauptet werden.
Damit berühren sich Kulturpädagogik und Soziale Kulturarbeit, deren disziplinäre Grenzen oftmals ohnehin nur künstlich und um den Preis grober Vereinfachungen gezogen werden können (vgl. etwa Bischoff/Brandi 2005:215ff.). Dennoch soll es an dieser Stelle explizit nicht um die (primär sozialpädagogische) Frage gehen, ob und wie soziale Benachteiligungen (und ihre psychosozialen Folgen), die zunächst einmal mit Musik nichts zu tun haben, erfolgversprechend mit Musik bzw. im Rahmen musikalischer Praxen bearbeitet werden können (vgl. dazu etwa die Beiträge in Hartogh/Wickel 2004; Hill/Josties 2007). So ist z.B. davon auszugehen, dass musikalische Aktivitäten positive Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl von Kindern und Jugendlichen haben können. Diese wären aber nicht primär im Hinblick auf die Teilhabe an musikalischen Praxen benachteiligt, sondern vor allen Dingen in anderen Hinsichten (als Beispiel kann die jüngste Initiative des Bundesbildungsministeriums herangezogen werden, die unter dem Titel "Kultur macht stark" firmiert. "Bildungsbenachteiligten" Kindern und Jugendlichen sollen hier außerschulische Projekte im Bereich der Kulturellen Bildung zugute kommen. Ganz offenkundig verspricht man sich hier vor allen Dingen Transferwirkungen von Musik (oder Tanz, oder Theater...) auf andere Bereiche, vor allem auf schulische Leistungen, vgl. http://www.bmbf.de/de/15775.php).
Um eine kulturpädagogisch relevante Benachteiligung handelte es sich demgegenüber dann, wenn Kindern und Jugendlichen bewusst oder unbewusst die Teilhabe an bestimmten musikalischen Praxen verweigert würde. Dass diese verweigerte Teilhabe z.B. eine starke soziale Komponente haben kann, ist dabei unbestritten; kulturelle Benachteiligung geht aber hierin nicht auf.
Benachteiligung als Ausgrenzung – verweigerte Teilhabe
Auch der Begriff der Teilhabe ist alles andere als klar definiert. Als deutsche Übersetzung wird er unter anderem für den englischen Begriff der „participation“ genutzt, der vor allen Dingen auf teilnehmen, (politisch) mitbestimmen, mitwirken etc. hindeutet. Weiterhin erscheint Teilhabe häufig zusammen mit dem Begriffspaar „Inklusion/Exklusion“. Gelingende Teilhabe wäre demnach identisch mit Inklusion, während eine nicht gelungene Teilhabe als Exklusion gleichbedeutend mit erlittenem Unrecht wäre. Dieser Sprachgebrauch ist, systemtheoretisch betrachtet, allerdings wenig überzeugend, da Menschen immer in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Umfang an gesellschaftlichen Subsystemen teilhaben; es ist somit nicht per se einleuchtend, „Exklusion“ negativ zu bewerten (vgl. Bartelheimer 2007:6). Dies wäre erst der Fall, wenn es sich um die bewusste Verhinderung einer Teilhabe an Praxen handelt, die auch tatsächlich allgemein als bedeutsam erachtet werden.
Weiterhin wird Teilhabegerechtigkeit derzeit vor allem unter den Stichwörtern Grundkompetenzen und politischer Partizipation diskutiert (Stojanov 2007; 2008:213). Die Orientierung an Grundkompetenzen erscheint dabei als die basalere, da auch politische Partizipation (als notwendige, nicht als hinreichende Bedingung) auf die Kompetenz angewiesen ist, sich angemessen und qualifiziert an politischen Diskursen beteiligen zu können. Teilhabe an musikalischer Kultur wäre demnach vor allem auf die Vermittlung von musik-kulturellen Kompetenzen angewiesen. Ganz vorläufig definiert hieße das: Teilhabe an musikalischer (musikbezogener) Kultur würde dadurch ermöglicht, dass alle Kinder und Jugendlichen an gesellschaftlich relevante musikalische Praxen herangeführt werden und die notwendigen musikalischen Kompetenzen (= musikalischen Umgangsweisen) erwerben, die für die erfolgreiche Teilnahme an diesen Praxen notwendig sind.
Dass mit dieser Definition noch recht wenig gewonnen ist, liegt auf der Hand. Weder wird durch sie bestimmt, um welche Praxen es sich dabei handelt (Teilhabe-an-Was?), noch, in welchem Maße (Wie-viel-Teilhabe?) und zu welchem Zweck (Teilhabe-Wozu?) Teilhabe überhaupt realisiert werden soll. Zählt z.B. der Besuch eines Opernhauses überhaupt zu den erstrebenswerten Teilhabeformen? Genügt ein Minimum an Information über Komponist und Stück, um erfolgreich an der musikalischen Praxis des Opernbesuches teilhaben zu können, oder bedarf es dazu vertiefter Kenntnisse, vielleicht sogar ein gewisses Maß an eigener stimmlicher Ausbildung? Oder stellt ein (sozialstaatlich) gewährtes Minimum an Teilhabe nicht bereits sogar eine raffinierte Form potentieller Exklusion dar, die letztlich dem Einzelnen die Verantwortung für das Misslingen oder Gelingen der Teilhabe aufbürdet (vgl. Bartelheimer 2008:18)? Und schließlich: Da die Teilhabe an einer musikalischen Praxis kaum oder jedenfalls nicht unmittelbar zur verbesserten politischen Partizipation beiträgt, wird es fraglich, ob man im Falle einer Exklusion überhaupt von einer Benachteiligung oder Ungerechtigkeit sprechen kann: Ist es z.B. ungerecht, wenn eine Familie nicht das Geld zur Verfügung hat, um einem Kind Instrumentalunterricht zu bezahlen (incl. der Fahrtkosten und der Instrumentenmiete), oder kann lediglich ein subjektiver Wunsch nach einem kostspieligen Hobby nicht erfüllt werden? Es kann sich natürlich innerhalb der Familie um eine Ungerechtigkeit handeln, wenn etwa Kind A Instrumentalunterricht erhält, und Kind B – trotz des ausdrücklichen Wunsches – nicht. Die Frage nach Benachteiligung und Ungerechtigkeit lässt sich immer nur relativ im Hinblick auf eine Gruppe von Menschen und ihren Umgang miteinander klären. Existiert der Wunsch nach Instumentalunterricht bei B gar nicht, wird man kaum von einer Ungerechtigkeit sprechen, wenn es keinen Unterricht erhält. Die Frage nach kultureller Teilhabe bzw. Benachteiligung ist nicht unter Bezug auf nicht-relationale „absolute Erfüllungswerte“ ein für alle Mal zu beantworten (vgl. Krebs 2000:18).
Eine auch nur halbwegs überzeugende Antwort auf diese Fragen wird ohne normative Überlegungen nicht auskommen (auch die UNO „Convention on the Rights of Persons with Disabilities“ (Un 2006) hält sich hier normativ zurück: Die Rede ist allein (a) vom Zugang (access) zu Kultur, auf den Behinderte ein Recht haben sollen, und (b) von der Gelegenheit (opportunity) zur Entfaltung des kreativen Potentials von Behinderten).
Es erscheint daher sinnvoll zu sein, die Frage nach der Teilhabe vor dem Hintergrund vorliegender Gerechtigkeitstheorien zu thematisieren; nicht, um aus diesen Theorien unmittelbare kulturpädagogische Konsequenzen zu ziehen, sondern um überhaupt erst einmal einen differenzierteren Blick zu gewinnen.
Gerechtigkeitstheorien als normativer Hintergrund
Bedenkt man, dass die Ungerechtigkeit des deutschen Bildungssystems insgesamt seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts diskutiert wird, und dass diese Diskussion im Kontext der PISA-Studien eine erstaunliche Renaissance feiert, so überrascht, wie wenig die pädagogische Diskussion dabei Bezug auf gerechtigkeitstheoretische Diskurse genommen hat. Zur Entschuldigung muss allerdings gesagt werden, dass pädagogische Themen in diesen Diskursen nur ganz selten auftauchen, so dass eine beträchtliche Übersetzungs- und Transferarbeit geleistet werden muss, um diese Ansätze pädagogisch gehaltvoll werden zu lassen. Diese Arbeit kann an dieser Stelle natürlich nicht erfolgen; ich beschränke mich daher auf einige Hinweise und Anmerkungen, die für den vorliegenden Kontext besonders relevant erscheinen.
Kontraktualismus und Verteilungsgerechtigkeit: John Rawls
Keine Theorie der Gerechtigkeit der letzten Jahrzehnte kann guten Gewissens an den Studien zur Gerechtigkeit vorbeigehen, die der amerikanische Philosoph John Rawls in immer neuen Anläufen entwickelt hat, und die ihre Kulmination (trotz aller Weiterentwicklungen und Korrekturen) sicherlich in der großangelegten „Theorie der Gerechtigkeit“ (deutsch 1971) gefunden hat. Bekannt geworden sind die beiden Gerechtigkeitsprinzipien, die Rawls als für gerechte Gesellschaften unhintergehbar und von ihren Mitgliedern als rational einsehbar formuliert hat:
(a) Jede Person hat einen gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist.
(b) Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer Chancengleichheit für alle offen stehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip) (Rawls 2006:78).
Bei Prinzip (a) handelt es sich offensichtlich um einen liberalen Standpunkt. Im Mittelpunkt von Rawls´ Gerechtigkeitstheorie stehen die Grundfreiheiten des Menschen, denen unbedingt ein Vorrang vor der Verteilung von Gütern aller Art eingeräumt wird. Prinzip (b) ist zweigeteilt. Der erste Teil spiegelt sich auch in der aktuellen bildungspolitischen Situation wider und verweist zurück auf bekannte Diskussionen der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts: Zwar besteht formale Chancengleichheit, da jeder das Recht auf den Besuch einer angemessenen Schule besitzt. Soziale und ökonomische Ungleichheiten entstanden und entstehen in Deutschland aber nicht zuletzt durch strukturelle Benachteiligungen, die nun als soziale Ungerechtigkeiten thematisiert und interpretiert werden. (Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit ist durchaus problematisch, da es zunächst nicht unmittelbar einsehbar ist, weshalb bestimmte soziale Bedingungen und Sachverhalte – wie etwa Armut, Behinderung, mangelnde Bildung etc. – per se ungerecht sein sollen; nicht zufällig entstammt der Begriff der sozialen Gerechtigkeit zunächst einmal der christlichen Sozialethik. Der Aufweis, dass es sich hier jeweils um Fälle von Ungerechtigkeit handelt – und nicht um Pech, Faulheit, den Gang der Natur etc. – ist demnach erst einmal zu führen (vgl. Höffe 2010:84ff.) ). Dem sprichwörtlichen „katholischen Arbeitermädchen vom Lande“ der Vergangenheit entspricht in der Gegenwart der „bildungsferne“, großstädtische, männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund.
Insofern diese Ungleichheiten (auch) auf erreichte Bildungsabschlüsse zurückzuführen sind, konzentriert sich die Diskussion in Deutschland vor allem auf die Kompensation schulisch relevanter Benachteiligungen (so kann Stojanov (2008) nachweisen, dass sich die deutsche bildungspolitische DIskussion „Nach PISA“ besonders auf diesen Punkt ausrichtet und andere Dimensionen von (Un)Gerechtigkeit vernachlässigt).
Komplexer und umstrittener ist der zweite Teil dieses Prinzips: Das sogenannte Differenzprinzip besagt, dass Ungleichheiten dann allgemein akzeptabel sind, wenn sie den am wenigsten begünstigten Personen den (relativ) größten Vorteil bringen. Wenn also, bei grundsätzlicher Chancengleichheit für alle, aufgrund von Umständen, die den Individuen nicht schuldhaft anzulasten sind, doch Ungleichheiten entstehen – was für Rawls unvermeidlich ist –, so sollten den Benachteiligten so viele Vorteile erwachsen, dass sie mit den nun entstandenen Ungleichheiten trotzdem zufrieden sein können (die Auffassung, Ungleichheiten seien per se ungerecht, ist zwar unter PädagogInnen verbreitet, ist aber nur schwer begründbar (vgl. dazu etwa Schmidt 2000). Drerup (2006:160) spricht diesbezüglich auch von einem „egalitaristische(n) moralische(n) Katechismus“; dieser „signalisiert als approbierte ethische Grundausstattung, dass kein Reflexionsbedarf besteht“ (ebd.).
Für pädagogische Kontexte impliziert dies mindestens, dass (unverschuldet) leistungsschwächere Kinder und Jugendliche ein Anspruch auf kompensatorische Fördermaßnahmen zugestanden werden sollte. Hier ist sicherlich vor allem an sprachliche Förderung in der Schule zu denken. Es geht bei Rawls aber nicht nur um Leistung. Benachteiligungen liegen nach Rawls auch dann vor, wenn „Talente und Fähigkeiten“ aufgrund familiärer Umstände ungleich verteilt sind, so dass es zu Einflüssen auf die jeweiligen „Lebensaussichten“ der Individuen kommt (Rawls 1958/2002:366). So wichtig die Institution Schule nun auch sicherlich für die Lebensaussichten von Individuen ist, so ist sie doch für den Lebenslauf nicht die einzig bedeutsame Instanz. Auch geht es, schultheoretisch gesehen, auch in der Schule ja nicht nur um Qualifikation und gesellschaftliche Allokation, sondern immer auch um Enkulturation und Integration (zu den Termini vgl. Fend 2006:49ff.), und dies nicht zuletzt im Musikunterricht. Auch im Hinblick auf Enkulturation und Integration – um an dieser Stelle nur diese Begriffe zu benutzen – müsste man daher Maßstäbe für Gerechtigkeit bzw. Benachteiligung finden, die pädagogisch im Sinne des Rawlsschen Differenzprinzips aufgenommen werden könnten. Wäre nicht z.B. ein Kind benachteiligt, wenn es nicht die Gelegenheit hätte, durch entsprechende Angebote und Fördermaßnahmen musikalisch „begabt“ zu werden, um dadurch seine Lebensaussichten in einem nicht-ökonomischen Sinne zu steigern?
An dieser Stelle zeigt sich aber nun die Beschränkung von Rawls´ Theorie, die primär eine Theorie des Rechten ist, und nicht eine Theorie des Guten. Zwar spricht auch Rawls davon, dass es sich selbstverständlich immer um die gerechte Zuweisung von Gütern handelt. Bei der Beschreibung dessen, um welche Güter im weitesten Sinne es sich denn überhaupt handeln soll, hält sich Rawls aber auffällig zurück. Dies ist sicherlich konsequent, denn in einer liberalen Gesellschaft muss ein Vorrang der Rechte herrschen, da niemand präjudizieren kann und darf, was denn für den Einzelnen überhaupt ein Gut darstellt (Rawls 1975:434). So wäre es von diesem Standpunkt aus ganz unzulässig zu behaupten, jedermann stünde das einklagbare Recht auf Kenntnis ganz bestimmter Musiken zu, gleichgültig, ob es sich um Streichquartette oder um Hip-Hop handelt. Anders ist es allerdings bestellt, wenn es um das Recht auf Zugang zu Musik der eigenen Wahl handelt, das nicht durch Benachteiligungen verschiedenster Art beschnitten werden darf. Während es im ersten Fall ganz unmöglich wäre, das Recht auf Teilhabe an einer ganz bestimmten musikalischen Praxis argumentativ zu begründen, bedürfte es aber auch für die zweite Variante eines beträchtlichen Aufwandes an Argumenten, um das Recht auf Teilhabe an Musik an sich zu begründen. Diese Argumente kommen jedenfalls ohne Rekurs auf eine Theorie des Guten nicht aus, die Bedeutung und Wert von Musik für Menschen in einer allgemein akzeptierten Weise explizieren müsste. Erst auf einer solchen Grundlage könnte dann davon gesprochen werden, dass jedermann die Freiheit zugebilligt sein müsste, an einer musikalischen Praxis seiner Wahl adäquat teilhaben zu dürfen.
Für eine solche Argumentation liefert Rawls allerdings nur wenig Material. Explizit spricht er davon, dass seiner Theorie zwar eine Theorie des Guten inhärent ist, aber es handele sich lediglich um eine „schwache Theorie des Guten“ (Rawls 1975:434): Man benötigt z.B. Bestimmungen des Guten, um überhaupt benachteiligte Gesellschaftsmitglieder identifizieren zu können, und über ein gewisses Maß an Gütern müssen alle verfügen, um an rationalen Gerechtigkeitsdiskursen teilnehmen zu können. Rawls spricht hier von „Freiheiten und Chancen“, „Vermögen und Einkommen“, „Selbstachtung und ein festes Vertrauen in den eigenen Wert“ (ebd., vgl. auch Rawls 2006:100f.), was ersichtlich eine Minimalbestimmung ist (und auch sein soll).
An dieser Stelle setzen nun KritikerInnen des Rawlsschen Ansatzes an. Besonders prominent ist in dieser Diskussion – die an dieser Stelle nicht annähernd adäquat abgebildet werden kann – die Kritik von Amartya Sen und Martha Nussbaum, die hier unter dem Stichwort des sogenannten „Capabilities Approach“ (siehe: Mark Schrödter „Wohlergehensfreiheit – Welche Lebenschancen brauchen junge Menschen? Der Capabilitys-Ansatz als möglicher Orientierungsrahmen“) subsummiert werden soll.
Verwirklichungschancen: Amartya Sen und Martha C. Nussbaum
Der Ökonom Amartya Sen und die Philosophin Martha C. Nussbaum haben in den letzten Jahrzehnten in unterschiedlicher Weise einen gerechtigkeitstheoretischen Ansatz entwickelt, der nicht zuletzt auch als Kritik bzw. als produktive Überschreitung von Rawls´ Theorie gelesen werden kann, und der als „Capabilities Approach“ (= CA) inzwischen auch in der Erziehungswissenschaft diskutiert wird (vgl. Otto/Ziegler 2008), wobei „Capability“ in der Regel mit „Verwirklichungschance“ übersetzt wird. Der entscheidende Unterschied zu Rawls besteht darin, dass hier die Theorie des Rechten zwar beibehalten, aber durch eine stärkere Theorie des Guten ergänzt werden soll. Der CA ist somit insgesamt als eine gerechtigkeitstheoretisch grundierte Theorie gelingender Lebensgestaltung bzw. als Theorie des guten Lebens zu lesen, wobei allerdings Sen und Nussbaum jeweils unterschiedliche Akzente setzen. Vor allem beim Ökonomen Sen steht nicht nur die gerechte Zuweisung bestimmter Güter im Mittelpunkt, sondern vor allem die „Umwandlung von Grundgütern in die Fähigkeiten des Menschen“ (Sen 2000:95). Ob jemand seine Lebenschancen nutzen kann, hängt offenkundig nicht nur davon ab, ob ihm adäquate finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, aber auch nicht nur davon, ob ihm möglichst gerechte Startchancen zugewiesen werden – so wichtig und unabdingbar dies auch bleibt. Der Fokus des CA verschiebt sich aber weg vom ausschließlichen Bezug auf den Beginn von Karrieren hin auf deren Verlauf:
Die ‚Verwirklichungschancen‘ einer Person beziehen sich auf die möglichen Verbindungen der Funktionen, die sie auszuüben vermag. Verwirklichungschancen sind also Ausdrucksformen der Freiheit: nämlich der substantiellen Freiheit, alternative Kombinationen von Funktionen zu verwirklichen (oder, weniger formell ausgedrückt, der Freiheit, unterschiedliche Lebensstile zu realisieren) (Sen 2000:95).
Unter Funktionen (functionings) versteht Sen hier konkrete Seinsweisen und Tätigkeitsformen von Menschen, während Verwirklichungschancen die Möglichkeiten bezeichnen, diese Funktionen auch zu realisieren. Es geht also auch hier nicht darum, ganz bestimmte Funktionen oder ganz bestimmte Verwirklichungschancen zu definieren oder gar paternalistisch festzuschreiben, sondern vielmehr um die Freiheit, ein möglichst hohes Maß an Verwirklichungschancen zu besitzen. Mögliche Ungerechtigkeiten beziehen sich folglich nicht nur auf ungleiche Startchancen, sondern potentiell auf den ganzen Prozess, in dem sich Seinsweisen und Tätigkeitsformen vollziehen.
Damit bestehen offensichtlich Verbindungen zwischen dem CA und allgemeinen Bildungstheorien, bei denen gleichfalls ein enger Zusammenhang zwischen Bildung und der Idee des guten Lebens besteht (vgl. auch Andresen/Otto/Ziegler 2008). Aber auch und gerade für Theorien gelungener oder verweigerter Teilhabe muss dieser – immer noch im Kern liberale – Grundgedanke besonders attraktiv sein, nicht zuletzt, weil hier das Gelingen oder Misslingen von Teilhabe nicht allein den Individuen zugeschrieben werden kann, welche die gewährte Gerechtigkeit der Chancen schlichtweg nicht genutzt haben (in Anlehnung an Kant: aus Gründen der Faulheit und Feigheit). Teilhabe darf in dieser Perspektive aber auch nicht so gedacht werden, dass hier Kinder und Jugendliche zu ihrem Glück gezwungen werden können. Gelungene Teilhabe unterliegt vielmehr einer ganzen Reihe von Bedingungen, die jede für sich bestimmten Gerechtigkeitskriterien unterliegen kann:
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Gesellschaftliche Umwandlungsfaktoren |
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Handlungs- und Entscheidungsspielraum, Wahlmöglichkeit |
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Ressourcen, Rechte |
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Verwirklichungschancen („Capabilities“) |
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Teilhabe-ergebnis, Lebenslage (-weise) |
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Individuelle Umwandlungsfaktoren |
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Persönliche, gesellschaftliche Ziele |
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Vorhandene Musikschulen, private Lehrer, Räumlichkeiten zum Üben, Fahrgelegenheiten etc. |
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Wahlmöglichkeit zwischen existierenden Instrumenten |
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Recht, ein Instrument zu erlernen; finanzielle Mittel, ein Instrument zu erwerben, zu leihen etc. |
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Verwirklichungschancen |
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Instrumentalspiel als Teil der individuellen Lebensweise (musikalische Praxis) |
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Begabung, Interesse, Ausdauer etc. |
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Instrumentalspiel als akzeptierter Teil des persönlichen, guten Lebens und/oder als gesellschaftlich erwünschte Tätigkeit |
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Wie zu sehen ist, handelt es sich aber auch hier um eine im Wesentlichen formale Theorie. Ob eine misslungene Teilhabe als ungerecht eingeschätzt werden kann, hängt vor allem (wenn auch nicht nur) davon ab, ob die anvisierte Lebensweise eine zumindest gesellschaftlich akzeptierte oder besser noch als notwendig erachtete Form eines guten Lebens darstellt. Die Entscheidung darüber, ob es z.B. öffentliche Musikschulen gibt, die für alle erreichbar und bezahlbar sind, ist eine politische, die wiederum auf dem unausgesprochenen Konsens in einer Gesellschaft basiert, dass das Erlernen eines Instrumentes Teil eines guten Lebens ist oder sein könnte. Weitergehende Aussagen darüber, was ein gutes Leben ist, kann der CA aber nicht treffen; er kann lediglich herausarbeiten, dass die Verwirklichungschancen in einer Gesellschaft umso größer sind, desto mehr Umwandlungsformen existieren und gefördert werden.
Während Sen also in normativer Hinsicht zurückhaltend bleibt, erhebt Nussbaum den Anspruch, die von Sen formal skizzierten Bedingungen eines guten Lebens inhaltlich weit konkreter ausfüllen zu können. Ausgangspunkt ist bei ihr eine Neuinterpretation der aristotelischen Theorie des guten Lebens. In Nussbaums Aristoteles-Lektüre geht es diesem, ebenso wie dem CA, darum, „jedem Bürger die materiellen, institutionellen und pädagogischen Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die ihm einen Zugang zum guten menschlichen Leben eröffnen, und ihn in die Lage versetzen, sich für ein gutes Leben und Handeln zu entscheiden“ (Nussbaum 1999:24). Ein gutes Leben kann nun aber nach Aristoteles erst dann realisiert werden, wenn es jedem möglich ist, bestimmte Tugenden zu entwickeln; umgekehrt kann ein Gemeinwesen nur bestehen, wenn hinreichend tugendhafte Menschen in ihm leben und politisch handeln. Die Interessen von Staat und Individuum überschneiden sich daher: dem Staat muss es daran gelegen sein, dass seine Angehörigen die Gelegenheit zu einem guten Leben erhalten. Individuen, die in einem solchen Staate leben, werden wiederum ein großes Interesse am Fortbestand dieses Staates haben. Dieser aristotelische Ansatz, so Nussbaum, sei nun grundsätzlich auch heute noch tragfähig, wenn auch natürlich die metaphysischen und politischen Bedingungen seiner Entstehung nicht mehr vorliegen. In bewusster Abgrenzung von Rawls nennt Nussbaum ihr Projekt daher auch eine „starke vage Konzeption des Guten“ (Nussbaum 1999:45): Einerseits vertritt sie eine starke Konzeption des Guten, da ohne dies nicht ersichtlich wäre, worauf denn die Individuen einen gerechtfertigten Anspruch besitzen, und was sie denn eigentlich verwirklichen möchten. Vage bleibt diese Konzeption aber, da sie den Individuen wiederum nicht vorschreiben kann und mag, worin denn Ansprüche und Ziele ganz genau bestehen müssen.
Nussbaum hat nun in mehreren Anläufen versucht, eine Liste von „Tugenden“ für die Gegenwart zu erstellen, die von ihr als „Grundfähigkeiten“ verstanden werden. Ihr Anspruch ist dabei, plausibel zu machen, „daß ein Leben, dem eine dieser Fähigkeiten fehlt, kein gutes menschliches Leben ist, unabhängig davon, was es sonst noch aufzuweisen vermag“ (Nussbaum 1999:202). Diese menschlichen Grundfähigkeiten beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf folgende Felder: Leben; Körperliche Gesundheit; Körperliche Integrität; Sinne, Vorstellungskraft und Denken; Gefühle; Praktische Vernunft; Zugehörigkeit; Andere Spezies; Spiel; Kontrolle über die eigene Umwelt (vgl. Nussbaum 2010:112ff.).
Mit dieser Aufstellung versucht Nussbaum eine Minimalliste von Fähigkeiten bzw. Befähigungen liefern zu können, die dem Vorwurf entgehen soll, doch wieder eine metaphysisch grundierte Theorie des Guten zu entwickeln, die möglicherweise zu einer paternalistischen Fest- und Zuschreibung universaler Ansprüche führen könnte. Dagegen macht Nussbaum geltend, dass ihre Theorie (a) aus einer plausiblen Binnenperspektive menschlicher Erfahrungen entstanden ist und nicht auf der Grundlage eines irgendwie gearteten externen Essentialismus`; (b) dass diese Liste prozedural aufzufassen ist, d.h. dass sie veränderlich und für Diskurse geöffnet bleibt; und schließlich (c), dass die genannten Befähigungen als Minimalausstattung zu sehen sind, auf deren Basis erst überhaupt Wahlmöglichkeiten der Individuen entstehen. M.a.W.: Jemand, der das Ziel hat, an einer musikalischen Praxis teilzunehmen, muss überhaupt erst einmal in der Lage sein, diesen Wunsch angemessen zu artikulieren, und er muss auch hinreichend Erfahrungen mit dieser oder anderen Praxen besitzen, um Gründe für diesen Wunsch angeben zu können. Der mögliche Vorwurf an Nussbaums Konzeption, es handele sich um eine Form des Paternalismus´, relativiert sich vor diesem Hintergrund schnell: Ein gewisses Maß an Paternalismus erscheint für eine realistische Einschätzung von Verwirklichungschancen als unerlässlich. Ob diese Chance dann auch genutzt wird, hängt – bei gegebenen Umwandlungsfaktoren – von jedem Einzelnen ab.
Es ist offensichtlich, dass sich aus dieser „starken vagen Konzeption des Guten“ weitaus mehr pädagogisch relevante Folgerungen ableiten lassen, als aus den formal bleibenden Ansätzen von Rawls oder Sen. So kann Nussbaum z.B. vehement für das Recht auf inklusive Bildung für Behinderte eintreten, auch und gerade wenn diese selbst nicht in der Lage sind, dieses Recht idealiter im Sinne von Rawls´ Vertragstheorie zu artikulieren (Nussbaum 2010:276ff.). Musikpädagogisch relevant sind dabei vor allem die von Nussbaum benannten Fähigkeiten, die in der Liste an Punkt 4 genannt werden: „Die Fähigkeit, im Zusammenhang mit dem Erleben und Herstellen von selbstgewählten religiösen, literarischen, musikalischen etc. Werken und Ereignissen die Vorstellungskraft und das Denkvermögen zu erproben“ (Nussbaum 2010:113; Hervorhebung JV); partiell kommen dann noch die Punkte 5 (Gefühle), 7 (Zugehörigkeit) und 9 (Spiel) dazu.
Trotzdem ist es einsichtig, dass Nussbaums Konzeption des Guten einen hohen Allgemeinheitsgrad besitzen muss, um überhaupt argumentativ haltbar zu bleiben. Aus ihr kann lediglich abgeleitet werden, dass es gesellschaftlich garantierte Ansprüche auf den Erwerb eines anspruchsvollen Sets an Grundbefähigungen geben sollte, deren Verweigerung als Ungerechtigkeit bewertet werden kann. Weiterhin muss es hinlängliche Umwandlungschancen geben, ohne welche der Erwerb von Grundbefähigungen nicht ausreicht. Im Hinblick auf musikpädagogische Ansprüche kann aber nicht mit guten Gründen gesagt werden, es gebe so etwas wie ein intuitiv einsehbares Recht auf die Befähigung zur Teilhabe an (bestimmten) musikalischen Praxen; so deutet bei Nussbaum nichts darauf hin, dass z.B. Musik zur Schulung der Vorstellungskraft unabdingbar sei und nicht funktional z.B. nicht durch Literatur ersetzt werden könnte (hier berührt sich der CA in NussbaumsVersion mit der „Human Needs“ Theorie, die zwischen basalen „needs“ (Bedürfnissen) und „satisfiers“ (Mittel zum Befriedigen der Bedürfnisse) unterscheidet (vgl. Bates 2009). Auch hier wird Musik nirgendwo als ein „need“ dargestellt, wohl aber als ein besonders aussichtsreicher „satisfier“, mit dessen Hilfe eine ganze Reihe von Bedürfnissen – ästhetischer wie nichtästhetischer Art – befriedigt werden können. Ein Recht auf schulischen Musikunterricht kann hingegen nur dezisionistisch behauptet werden, so etwa bei Heimonen (2006); vgl. dazu auch die Anmerkungen von Kaiser (2006) ).
Dies ändert aber nichts daran, dass hier mit zumindest plausiblen Gründen dafür argumentiert wird, eine, wenn auch als minimal aufzufassende, Form von Teilhabe an ästhetischer Praxis für alle sei durch Gesellschaften zu garantieren, die als gerecht zu bezeichnen sind.
Anerkennungsgerechtigkeit: Axel Honneth und Iris Marion Young
Liegt das Verdienst von Sen und Nussbaum darin, Rawls Theorie des Rechten durch eine Theorie des Guten zu ergänzen und zu überschreiten, so kommt in Axel Honneths sozialphilosophischer Theorie der Anerkennung noch eine Perspektive hinzu, durch welche die soziale Interaktion von Individuen in den Mittelpunkt gerückt wird. Der zentrale Begriff ist hier derjenige der Anerkennung: Gerechtigkeit unter Ungleichen, so die Kernthese von Honneths zahlreichen Arbeiten zu diesem Komplex, kann sich überhaupt nur einstellen, wenn zuvor schon der jeweils Andere als Anderer in Form wechselseitiger Wertschätzung anerkannt worden ist. In einer weit ausholenden Rekonstruktion der Intersubjektivitätstheorie des frühen Hegel und ihrer Naturalisierung durch G. H. Mead gelangt Honneth zur Aufstellung von drei wesentlichen „Mustern intersubjektiver Anerkennung“, nämlich Liebe (Empathie), Recht (moralischer Respekt) und Solidarität (soziale Wertschätzung). Ein Individuum, das in diesem Sinne „anerkannt“ ist, erfährt sich demnach in familiären und freundschaftlichen Kontexten als geliebt, als Rechtssubjekt als respektiert und geachtet und als Angehöriger einer sozialen Gruppe als geschätzt. Diesen Dimensionen der Anerkennung entsprechen aber auch Formen der Missachtung, nämlich Vergewaltigung, Entrechtung und Entwürdigung (vgl. ausführlicher Honneth 1994:148ff.). Diese Missachtungen führen nach Honneth zu gesellschaftlichen Konflikten, da sie als Ungerechtigkeiten erfahren werden. Verteilungsgerechtigkeit im Sinne von Rawls, aber auch die Gewährung von Verwirklichungschancen im Sinne von Sen oder Nussbaum, ist vor diesem Hintergrund überhaupt nur möglich auf der Basis von erkämpfter gesellschaftlicher Anerkennung. Schematisch aufgelistet stellt sich dies so dar (Honneth 1994:211):
Anerkennungsweise |
Emotionale Zuwendung |
Kognitive Achtung |
Soziale Wertschätzung |
Persönlichkeitsdimension |
Bedürfnis- und Affektnatur |
Moralische Zurechnungsfähigkeit |
Fähigkeiten und Eigenschaften |
Anerkennungsformen |
Primärbeziehungen (Liebe, Freundschaft) |
Rechtsverhältnisse (Rechte) |
Wertgemeinschaft (Solidarität) |
Entwicklungspotential |
|
Generalisierung, Materialisierung |
Individualisierung, Egalisierung |
Praktische Selbstbeziehung |
Selbstvertrauen |
Selbstachtung |
Selbstschätzung |
Missachtungsformen |
Misshandlung und Vergewaltigung |
Entrechtung und Ausschließung |
Entwürdigung und Beleidigung |
Bedrohte Persönlichkeits-komponente |
Physische Integrität |
Soziale Integrität |
„Ehre“, Würde |
Lässt man die vor allem in sozialen Primärbeziehungen vorherrschende Dimension der emotionalen Zuwendung einmal beiseite, so thematisiert sich Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit im Hinblick auf musikalische Praxen (sofern es um Rechtsverhältnisse geht) sicher auch im Bereich der kognitiven Achtung, aber vor allem in dem der sozialen Wertschätzung. Mangelnde Anerkennung dieser Praxen führt hier zu einer Entwürdigung von Gruppen und Individuen sowie zu einer Entsolidarisierung, die potentiell zu sozialen Konflikten führen kann. Dies wäre z.B. der Fall, wenn die bei Kindern und Jugendlichen vorliegenden musikbezogenen Fähigkeiten und Eigenschaften, die sie in unterschiedlichen Praxen außerhalb der Schule erworben haben, im Schulunterricht ignoriert oder sogar negativ bewertet würden, da dort andere Praxen präferiert werden. Folgt man oberflächlich Rawls´ Differenzprinzip, so träten dann keine Konflikte auf, wenn die solcherart erst schulisch erzeugten Unterschiede z.B. durch Förderunterricht für die hier Benachteiligten ansatzweise kompensiert würde. Dies ist natürlich wenig wahrscheinlich, da es sich hier gar nicht um naturhaft gegebene Ungleichheiten handelt, sondern um sozial gesetzte Differenzen. Potentielle Konflikte könnten somit nicht durch eine kompensatorische Förderung, sondern durch Anerkennung der jeweils anderen Praxen vermieden werden – was nicht ausschließt, dass diese Anerkennung dann bestimmte fördernde Maßnahmen impliziert.
Stärker noch als bei Honneth ist in den Arbeiten der amerikanischen Philosophin Iris Marion Young der Fokus auf real existierende Formen von verweigerter Anerkennung gerichtet, die bei ihr in Gestalt von Unterdrückung und Herrschaft thematisiert werden. Für musikpädagogische Zusammenhänge sind hier vermutlich kulturelle Unterdrückung und kulturelle Herrschaft besonders relevant, die jeweils als besondere Formen eines umfassenden Kulturimperialismus´ erscheinen. Verweigerte Anerkennung heißt hier „zu erfahren, wie durch die in unserer Gesellschaft herrschenden Werte die besondere Perspektive einer Gruppe unsichtbar gemacht und wie zugleich die eigene Gruppe stereotypisiert und als das Andere gekennzeichnet wird“ (Young 2002:439). Unsichtbar-Machen, Stereotypisieren und Kennzeichnung als „das Andere“ können hier als anwachsend subtile Formen der Nicht-Anerkennung verstanden werden (vgl. durchaus ähnlich auch Honneth 2003a, 2005). Die erste Form des Kulturimperialismus – Unsichtbar-Machen – scheint für die Musikpädagogik dabei besonders plausibel und damit auch bearbeitbar zu sein (so verstehen etwa die meisten der zahlreichen Beiträge in Gould et al. (2009) Gerechtigkeit durchweg als „social justice“ und diese wiederum ausschließlich als die Bekämpfung von Unterdrückung (einen Überblick über die anglo-amerikanische Diskussion gibt Kertz-Welzel 2012): In der Regel (und zumeist zu Unrecht) wird das Unsichtbar-Machen bestimmter musikalischer Praxen dem Musikunterricht an Allgemeinbildenden Schulen zugeschrieben, so als wenn dort nach wie vor eine (hoch)kulturelle musikalische Monokultur herrschte. Musikpädagogische Interventionen inner- und außerhalb der Schule können vor diesem Hintergrund dann als Möglichkeiten inszeniert werden, einen Beitrag zur Anerkennungsgerechtigkeit zu liefern, dem sich der traditionelle Unterricht verweigert.
Die Ambivalenzen der Anerkennungsgerechtigkeit (vgl. Balzer 2007) zeigen sich spätestens aber dann im Bereich der Stereotypisierungen und vor allem in dem der Kennzeichnung als „das Andere“. So versuchen etwa Stereotypisierungen den komplexen Bereich von „race, class und gender“ in Form einfacher Zuschreibungen zu kategorisieren: „Die“ Türken, „die“ Mädchen, „die“ Jungen, „die“ Homosexuellen“ etc. praktizieren Musik in ganz bestimmten Formen, haben ganz bestimmte musikalische Vorlieben etc. Die Anerkennung einer sozialen Gruppe kann also sowohl zu groben Simplifizierungen führen, die der Komplexität der betreffenden Gruppe keinerlei Rechnung trägt, als auch zur einfachen Subsumtion von Individuen unter die Kategorie der jeweiligen Gruppe. Und schließlich können diese Stereotypen sogar noch als das Andere positiv herausgestellt und damit verfestigt werden, etwa in der Idee einer spezifisch „mädchenorientierten Musikpädagogik“ (vgl. dazu auch Vogt 2006, 2011).
Anerkennungsgerechtigkeit, die Identitäten voraussetzt, mit denen dann pädagogisch umgegangen werden soll, operiert folglich immer mit der Voraussetzung des „Anerkennung als jemand“, ohne auf die fragile Entstehung des „jemand“ als Entstehung von Differenzen weiter zu rekurrieren. In pädagogischen Zusammenhängen ist es aber relevanter, was jemand noch werden könnte, als das, was er ohnehin schon ist. Theorien der Anerkennung (und ihrer Verweigerung) weisen darauf hin, dass Gerechtigkeitsfragen unter Ausklammerung der ihnen zugrunde liegenden sozialen Interaktionen schwerlich befriedigend zu beantworten sind. Anerkennung bleibt aber ein ambivalenter Begriff; auch und gerade in bester pädagogischer Absicht kann Anerkennung zu einer Form von Unterdrückung und Herrschaft geraten, die womöglich als Form von subtiler Ungerechtigkeit gar nicht mehr erkennbar ist (siehe dazu auch Gould 2007).
Implikationen
Die hier skizzierten Gerechtigkeitstheorien können als argumentative Standards aufgefasst werden, hinter die keine Diskussion über Kulturpädagogik, Musik und Benachteiligung ohne gute Gründe zurückfallen sollte. Jede der hier vorgestellten Theorien betont dabei einen wesentlichen Aspekt von Gerechtigkeit, ohne dass eine umfassende Theorie in Aussicht wäre. Zusammenfassend lässt sich vor diesem Hintergrund zunächst einmal sagen: Jugendliche sind im Hinblick auf die Teilhabe an musikalischen Praxen dann benachteiligt, wenn
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gelungene oder verweigerte Teilhabe an musikalischen Praxen zur Entstehung von sozialen und ökonomischen Ungleichheiten führt oder als symbolischer Ausdruck solcher Ungleichheiten fungiert, ohne dass es eine Form des Ausgleiches dieser Ungleichheiten gäbe (Rawls).
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bei grundsätzlich vorhandenen Rechten und Ressourcen keine oder zu wenig gesellschaftliche Verwirklichungschancen bestehen, musikalische Praxen zu einem Teil eines als wünschenswert akzeptierten guten Lebens zu machen (Sen).
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die Möglichkeit, Grundbefähigungen zur Teilhabe an musikalischen Praxen (als Variante ästhetischer Praxis) zu erwerben, verweigert wird (Nussbaum).
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es durch fehlende gesellschaftliche Anerkennung bestimmter musikalische Praxen zu emotionaler, kognitiver oder sozialer Missachtung für Gruppen und/oder Individuen kommt (Honneth).
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ungerechtfertigte Herrschaftsverhältnisse in einer Gesellschaft sich in bestimmten Formen des Kulturimperialismus´ manifestieren, die von offener Unterdrückung musikalischer Praxen bis hin zu ihrer zweifelhaften Auszeichnung als „das Andere“ reichen (Young).
Schon wenn man diese Bestimmungen von Benachteiligung als heuristisches analytisches Instrumentarium benutzt, wird deutlich, dass Benachteiligungen in ganz unterschiedlichen Kontexten auftreten können, die dementsprechend auch nur auf ganz unterschiedliche Art und Weise bekämpft werden können. So muss es z.B. im Sinne des „Capabilities Approach“ als ungerecht empfunden werden, wenn eine Stadt wie Hamburg sehr viel Geld in ein Bauprojekt zur Förderung der sogenannten musikalischen Hochkultur investiert, während es andererseits kaum öffentlich geförderte Probenräume für junge Popmusiker gibt, die sich ansonsten die Miete dieser Räume nicht leisten könnten. Ebenso ungerecht wäre es allerdings z.B. im Sinne Youngs, wenn Kindern und Jugendlichen die Begegnung mit ungewohnter Musik versperrt bliebe, nur weil ihnen in wohlmeinender Absicht eine stigmatisierende Anerkennung z.B. als Kinder mit Migrationshintergrund gewährt würde. Und schließlich können in einer komplexen Institution wie der Allgemeinbildenden Schule auch unterschiedliche Gerechtigkeitsdimensionen aufeinander prallen, wenn z.B. Allokations- und Integrationsfunktion der Schule zugleich bedient werden sollen, also soziale Ungleichheiten hergestellt und gleichzeitig vermindert werden sollen. Es ist daher kein Zufall, wenn etwa Berkemeyer et al. nahelegen, der Anerkennungsgerechtigkeit werde am besten Genüge getan, wenn im Ganztagsbetrieb auch „Fähigkeiten kultureller (…) Teilhabe“ erworben werden können, die nicht schulisch geprüft werden (2012:32). Die verschiedenen Funktionen der Schule werden somit zeitlich voneinander getrennt, wobei der kulturellen Teilhabe potentiell der Nachmittag zugewiesen wird (es steht zu vermuten, dass gerade in diesem Bereich dann Kooperationen von schulischer Musikpädagogik und Kulturpädagogik gesucht werden, wohingegen die zentrale Allokationsfunktion der Schule nicht angetastet wird).
Dieser Ausweg ist aber in dem Augenblick versperrt, in dem die Inklusion von Kindern mit Förderbedarf in den allgemeinbildenden Unterricht umgesetzt wird; es geht dann um Verwirklichungschancen, die nicht durch eine Beschränkung auf den Kompetenzerwerb als realisiert gelten können.
Insgesamt ergibt sich daraus, dass das Phänomen der musikbezogenen Benachteiligung nur partiell durch musik- oder kulturpädagogische Interventionen bearbeitet werden kann (zumal, wenn solche Benachteiligungen evtl. pädagogisch zuerst einmal erzeugt werden). Pädagogische Interventionen können nur Teil eines gesamtpolitischen Programmes sein, das weder nur kulturell, noch nur pädagogisch operiert, sondern zugleich auch rechtliche, soziale, finanzielle etc. Aspekte mit einbezieht. Und zuletzt hängt dieses Programm von der Beantwortung der prätentiösen Frage ab: In welcher Weise können eigentlich musikalische Praxen zu einem „guten Leben“ beitragen, so dass es als akzeptiert und wünschenswert erscheint, Musik zu einem Teil eines solchen Lebens zu machen? Die Frage ist deshalb so prätentiös, weil es ebenso viele Antworten auf sie gibt wie musikalische Praxen und Gründe, in diesen Praxen involviert zu sein. In vorsichtiger Anlehnung an Bowman (2002) oder auch DeNora (2000) lässt sich vielleicht sagen: Musiken haben in einmaliger Weise immer
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einen leiblichen Charakter, genauer gesagt: Musik kann selbst als „Vollzug von Leiblichkeit“ (Oberhaus 2006) angesehen werden
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einen sozialen Charakter, d.h.: Musikalische Praxen sind immer auch in irgendeiner Weise auch soziale Praxen, schon weil sie auf dem Gehörsinn als einem wesentlich sozialen Sinn beruhen (vgl. dazu u.a. Vogt 2001)
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einen ethischen Charakter, d.h.: Musikalische Praxen haben es (als soziale Praxen) in besonderer Weise immer auch mit intersubjektiven Verständigungs- und Interaktionsprozessen zu tun (vgl. Kaiser 2008), die sogar als bildungstheoretisch konstitutiv angesehen werden können (so etwa bei Orgass 2007)
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einen performativen Charakter, da sie nicht anders als im Vollzug existieren (vgl. u.a. Krause 2010)
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einen präsentischen Charakter, da sie nicht anders als in der Gegenwart existieren (von dort allerdings auch auf Vergangenheit und Zukunft verweisen können; vgl. u.a. Vogt 2008)
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einen identitätsbildenden und -erhaltenden Charakter, da sie stets eine spezifische Form der Selbst- und Gruppenerfahrung darstellen (vgl. u.a. MacDonald et al. 2002)
Ganz gleich, für welche Praxis man sich entscheidet, oder welche dieser Charakteristika jeweils als besonders wichtig angesehen werden: Es gibt eine ganze Reihe von Gründen dafür, weshalb gerade musikalische Praxen aufgrund ihrer – durch Kunst, Literatur oder Theater nicht ersetzbaren – Konstitution Teil eines guten Lebens sein können (nicht müssen). Die Debatte, was denn eigentlich ein „gutes Leben“ sei, kann hier natürlich nicht geführt werden. Auf jeden Fall können musikalische Praxen immer nur ein Teil dieses Lebens sein und niemals dieses selbst. Darüber hinaus ist musikalische Praxis allerdings ohne ethische Dimensionen, also ohne gelingende Interaktionen und ohne die Anerkennung anderer Personen gar nicht als solche zu bezeichnen. Es bleibt die gemeinsame Aufgabe von Kulturpädagogik und Musikpädagogik, nicht nur vorhandene Benachteiligungen im Medium der Musik pädagogisch zu bearbeiten, sondern auch daran zu erinnern, dass es Pflicht der Gesellschaft ist, Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu bieten, an musikalischen Praxen so teilzunehmen, dass diese Teil eines guten Lebens für alle werden können.