Aufwachsen mit digitalen Medien — Dynamische Machtbalancen in der familialen Medienerziehung
Empirische Ergebnisse der qualitativen Panelstudie «ConKids – Sozialisation in einer tiefgreifend mediatisierten Lebenswelt»
Abstract
Die familiale Medienerziehung stellt einen wichtigen Bestandteil des kindlichen Mediensozialisationsprozesses dar. Der Artikel diskutiert familiale Medienerziehung anhand des theoretischen Ansatzes der kommunikativen Figurationen (Hepp und Hasebrink 2014, 2017). Ein zentrales Merkmal kommunikativer Figurationen sind dynamische Machtbalancen, die sowohl zwischen den Akteurinnen und Akteuren innerhalb der Familie als auch in Beziehung zu anderen sozialen Domänen bestehen. Grundlage für die Betrachtung sind Daten der qualitativen Panelstudie ‹ConKids›, die den Sozialisationsprozess in einer tiefgreifend mediatisierten Gesellschaft erforscht. Der Ansatz, Medienerziehung aus einer figurationstheoretischen Perspektive zu beschreiben, ermöglicht es, den prozessualen Charakter des grundsätzlich asymmetrischen (Medien-)Erziehungsverhältnisses zu erfassen. Außerdem beinhaltet er das Potenzial, die Wechselwirkungen zwischen der familieninternen Medienerziehung und figurationsexternen Einflussfaktoren zu berücksichtigen. Für das Sample der ‹ConKids-Studie› zeigt sich, dass sich die Machtpotenziale der Kinder durch den entwicklungsbedingten Autonomieerwerb mit zunehmendem Alter erwartungsgemäß erweitern. Hierbei gestalten sich die Machtverhältnisse zwischen Eltern und Kindern grundsätzlich dynamisch, nicht statisch. Als zweiten wichtigen Aspekt weisen die Daten aus dem Sample auf eine wahrgenommene Machtlosigkeit sowohl von Eltern als auch Kindern gegenüber figurationsexternen Einflüssen hin. Dies wirft die Frage auf, wie Familien hinsichtlich der Entwicklung umfassenderer Handlungskompetenzen unterstützt werden können.
Growing up with Digital Media. Dynamic Power Balances in Family Media Education
Family media education represents an important component of the child‘s media socialization process. This article discusses family media education using the theoretical approach of communicative figurations (Hepp und Hasebrink 2014, 2017). A central component of communicative figurations are dynamic power balances that exist both between actors within the family and in relation to other social domains. This analysis is based on data from the qualitative panel study ‹ConKids›, which investigates the socialization process in a deep mediatized society. The approach of describing media education from a figuration-theoretical perspective makes it possible to capture the processual character of the fundamentally asymmetrical (media) educational relationship. It also has the potential to take into account the interactions between media education within the family and factors external to the figuration. For the sample of the ‹ConKids study›, it appears that children‘s power potentials expand as expected with increasing age due to the developmental acquisition of autonomy. The power relations between parents and children are basically dynamic, not static. As a second important aspect, the data from the sample point to a perceived powerlessness of parents as well as children in the face of influences external to the figuration. This raises the question of how families can be supported with regard to the development of more competences.
Dieser Beitrag basiert auf Reflexionen von Katrin Potzel und Andreas Dertinger, vorgetragen im PANEL 4 „Generationale Räume und Ästhetiken“ der 11. Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung zu „Ästhetik – Digitalität – Macht", März 2021.
Aufwachsen in einer tiefgreifend mediatisierten Lebenswelt – neue Herausforderungen für Familien
Da digitale Medien heutzutage fester Bestandteil der Gesellschaft sind, kommen Heranwachsende bereits in frühester Kindheit mit Smart Toys, Tablets und Smartphones in Kontakt (Wagner, Eggert und Schubert 2016; Siller 2018; Feierabend et al. 2021). Gesellschaftliche Veränderungsprozesse, wie sie beispielsweise mit dem Konzept der «tiefgreifenden Mediatisierung» beschrieben werden (Hepp 2019), stellen somit auch Familien vor neue Herausforderungen. Der kindliche Alltag wird durch die gesellschaftliche Medienumgebung, die Medienensembles, die für das Kind relevanten sozialen Domänen und durch das individuelle Medienrepertoire des Kindes geprägt, das sich aus dessen Medien und Medienpraktiken zusammensetzt (Hasebrink und Hölig 2017). Studien zur medienbezogenen Sozialisation setzen sich gezielt mit dem Aufwachsen im Kontext tiefgreifender Mediatisierung auseinander (etwa Dertinger et al. 2021; Paus-Hasebrink 2017; Livingstone 2002). Gegenwärtig stellt die Corona-Pandemie Familien vor zusätzliche und in ihrer weiteren Entwicklung nicht abzusehende Herausforderungen in Bezug auf digitale Medien(-nutzung) (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020; Wößmann et al. 2021).
Aufgrund ihrer relevanten Rolle für das kindliche Aufwachsen sind digitale Medien sowohl innerhalb der Familie als auch im Verhältnis zu weiteren sozialen Domänen Gegenstand machtbezogener Aushandlungsprozesse zwischen den jeweiligen Akteurinnen und Akteuren. Einerseits versuchen Eltern, strukturierend auf das familiale Medienensemble und das kindliche Medienrepertoire einzuwirken (Hajok 2019; Dedkova und Smahel 2020) und bringen innerhalb der Familie ein Machtgefälle durch medienerzieherische Regelsetzungen hervor (Wagner und Gebel 2015). Eltern stehen unterschiedliche Strategien zur Verfügung, um das medienerzieherische Verhältnis auszugestalten. Hierzu zählen beispielsweise die Einschränkung des Medienrepertoires der Heranwachsenden, die Co-Nutzung von Medienangeboten oder auch die bewusst gestaltete Vorbildrolle der Eltern im Umgang mit Medien (Kammerl, Zieglmeier und Wartberg 2020; Çankaya und Odabaşı 2009). Andererseits haben Eltern häufig das Gefühl, nicht mit aktuellen technologischen Medienentwicklungen Schritt halten zu können und dass es ihnen sowohl an theoretischem Wissen als auch Handlungskompetenz bezüglich dieser Technologien mangelt (Livingstone et al. 2011; Wagner, Eggert und Schubert 2016). Aber auch Kinder sind in der medienerzieherischen Beziehung nicht machtlos. Sie können sich an medienerzieherischen Aushandlungsprozessen beteiligen oder vorhandene Reglementierungen umgehen. Vor allem mit zunehmendem Alter und wachsender Autonomie der Heranwachsenden verlagert sich die Machtbalance tendenziell zu ihren Gunsten (Treibel 2008), wenn weniger elterliche Eingriffe in die Mediennutzung erfolgen (Glatz, Crowe und Buchanan 2018; Peled 2018; Dedkova und Smahel 2020), Kinder bzw. Jugendliche einen zunehmend eigenständigen Umgang mit (digitalen) Medien ausbilden (Eggert und Wagner 2016) oder ihnen eine Machtposition zukommt, indem sie in der Familie zu Expertinnen oder Experten für digitale Medien werden, weil sie einen Wissensvorsprung gegenüber den Eltern entwickeln (Wagner, Eggert und Schubert 2016; Feierabend, Plankenhorn und Rathgeb 2016).
Weitere soziale Domänen wirken auf die Familien als Ganzes oder auf einzelne Familienmitglieder ein. Beispielsweise können Familien – ausgehend von sozialen Erwartungen, die von außenstehenden Personen wie Freundinnen und Freunden bzw. Bekannten der Eltern oder aus der Schule bestehen – die Wahrnehmung entwickeln, individuelle Medienpraktiken nicht nach eigenem Ermessen umsetzen zu können oder sich gezwungen fühlen, bestimmte Medienangebote zu nutzen. Auch die Medienpraktiken von Freundinnen und Freunden oder Mitschülerinnen und Mitschülern stellen Heranwachsende vor die Herausforderung, ohne Unterstützung der Eltern mit sehr unterschiedlichen Problemen – von Spam über sexuelle Inhalte bis hin zu ‹Hate Speech› und ‹Mobbing› – umgehen zu müssen (Livingstone et al. 2011). Darüber hinaus werden durch Medienkonzerne und -plattformen bestimmte Anforderungen an Familien gestellt (z. B. im Hinblick auf die Preisgabe von Daten, zeitliches Investment etc.). Ein angemessener Umgang mit diesen Anforderungen (über-)fordert sowohl Eltern als auch Kinder im Alltag (Aufenanger 2013; Gapski 2015; Brüggen et al. 2019; Friedrichs-Liesenkötter und von Gross 2020; Ofcom 2020).
In der Familie bzw. bei den individuellen Akteurinnen und Akteuren dieser sozialen Domäne zeigen sich im Umgang mit digitalen Medien somit Gefühle der Macht oder Machtlosigkeit, die möglicherweise bis zur Wahrnehmung einer eigenen Ohnmacht reichen können. In diesem Artikel werden empirische Ergebnisse der qualitativen Panelstudie «ConKids – Sozialisation in einer tiefgreifend mediatisierten Lebenswelt» mit Blick auf die wahrgenommenen Gefühle von Macht und Machtlosigkeit der Akteurinnen und Akteure in der Familie diskutiert. (Anm.: Das Forschungsprojekt «Sozialisation in einer sich wandelnden Medienumgebung» wird von Rudolf Kammerl (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) und Claudia Lampert (Leibniz-Institut für Medienforschung, Hans-Bredow-Institut) geleitet und von der DFG gefördert (KA 1611/7-1 und LA 2728/1-1).) Aus theoretischer Perspektive stützt sich diese Betrachtung auf das Konzept «kommunikativer Figurationen» (Hepp und Hasebrink 2017). Im Fokus der Darstellung steht das medienerzieherische Verhältnis zwischen Eltern und Kind(ern), das als wichtiger Aspekt der medienbezogenen Sozialisation von Heranwachsenden zu verstehen ist. Die abschließende Diskussion wirft die Frage auf, wie Familien mit den medienbezogenen Herausforderungen umgehen und diesen möglichst souverän begegnen können.
Dynamische Machtbalancen der kommunikativen Figuration Familie
Mediensozialisation wird im Anschluss an das Sozialisationsverständnis von Hurrelmann und Bauer (2015, 97) als Persönlichkeitsentwicklung im Wechselverhältnis der gesellschaftlich vorhandenen Medien(-angebote) und dem aktiv handelnden Individuum verstanden (Vollbrecht 2014). Der individuelle Sozialisationsprozess einer Person ist sowohl auf der Meso-Ebene von den innerfamilialen medienbezogenen Interaktionsprozessen sowie dem familialen Medienensemble als auch auf der Makro-Ebene von einer Auseinandersetzung mit der Medienumgebung abhängig (Hoffmann, Krotz und Reißmann 2017). Ausgehend vom Meta-Prozess der tiefgreifenden Mediatisierung verschmelzen beide Ebenen zunehmend (Hepp 2019). Trotz – oder möglicherweise aufgrund – dieses Verschmelzens sozialer Domänen nimmt die Familie die Rolle einer zentralen Sozialisationsinstanz in Bezug auf Medien ein, die durch die Gestaltung des kindlichen Medienrepertoires prägend und habitualisierend auf die Medienpraktiken der Heranwachsenden wirkt (Kamin und Meister 2020). Familiale Medienerziehung ist durch eine pädagogische Beurteilung von Medien sowie eine intentionale und zielgerichtete Gestaltung der Mediennutzungsbedingungen durch die Eltern charakterisiert. In dieser Einbettung findet das Aufwachsen mit Medien statt (Iske 2012; Wagner, Gebel und Lampert 2013).
Im Gegensatz zum Begriff der Mediensozialisation, der deskriptiv die Bedingungen beschreibt, in welchen das Aufwachsen mit Medien stattfindet (Kamin und Meister 2020, 6), ist der Medienerziehungsbegriff somit grundsätzlich normativ aufgeladen, da mit ihm spezifische Zielsetzungen und Wertvorstellungen über die Erziehungsziele verknüpft sind (Spanhel 2011, 185). Im medienpädagogischen Diskurs werden diese Zielvorstellungen in einem weitgehenden Konsens zur Befähigung der Heranwachsenden «zu einem sachgerechten, selbstbestimmten, kreativen und sozialverantwortlichen (sic!) Handeln in einer von Medien mitgestalteten Welt» (Tulodziecki 2017, 238) gesehen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die praktische Umsetzung dieser abstrahierten Zielsetzung abhängig von konkreten und spezifischen Vorstellungen darüber ist, wie diese Zielsetzung erreicht werden kann. Tulodziecki, Herzig und Grafe (2019, 161ff.) haben diese Vorstellungen unter historischer und konzeptioneller Perspektive beispielsweise als behütend-pflegende, ästhetisch-kulturorientierte, funktional-systemorientierte, kritisch-materialistische sowie handlungs- und kompetenzorientierte Sichtweise klassifiziert. Die Frage, welche konzeptionellen Sichtweisen sich für Eltern als handlungsleitend erweisen, kann somit nur empirisch beantwortet werden.
Als weiteres bestimmendes Merkmal – neben dem intentionalen Charakter – ist (Medien-)Erziehung immer durch eine spezifische, asymmetrisch-komplementäre und machtförmige Rollenbeziehung zwischen Erziehendem und Zu-Erziehendem gekennzeichnet (Iske 2012). Entsprechend konstatiert Waterstradt (2015) mit Bezug auf Wolf (1999), dass «Erziehung […] ohne ein Machtdifferenzial zugunsten der Erwachsenen (…) nicht möglich [ist]» (Waterstradt 2015, 174).
Auf Basis dieser Ausführungen stellt sich die Frage, wie fluktuierende Machtbalancen in der Medienerziehung theoretisch und empirisch erfasst werden können. Für dieses Vorhaben bietet die «Figurationssoziologie» von Norbert Elias einen hilfreichen Ansatz. In seinen Arbeiten verfolgte er das Ziel, die theoretische Trennung von Individuum und Gesellschaft zu relativieren, um den Blick stärker auf das interaktive Wechselverhältnis zwischen beiden Polen zu richten (Elias 1970). Hierbei ist die Annahme dynamischer Machtverhältnisse ein wichtiger Aspekt, um das Interdependenzverhältnis zwischen den Akteurinnen und Akteuren zu beschreiben. Mit dem Konzept der kommunikativen Figurationen wird Elias' Figurationssoziologie gegenwärtig als empirischer Ansatz für die kommunikations- und medienwissenschaftliche Forschung diskutiert (Hepp und Hasebrink 2017; Hepp 2019).
In ihrem Ansatz konzipieren Hepp und Hasebrink (2017) sinnhafte soziale Gebilde in unterschiedlichen Größen (z. B. Familie, Schule oder Peers) als soziale Domänen und gehen davon aus, dass diese forschungsmethodisch als «kommunikative Figurationen» (ebd.) zugänglich gemacht werden können. Konstitutiv für die Analyseeinheit einer kommunikativen Figuration ist eine spezifische Akteurskonstellation, die sich über kommunikative Praktiken etabliert und über die soziale Wirklichkeit konstruiert wird. Umfasst werden die kommunikativen Praktiken durch einen Relevanzrahmen, anhand dessen bedeutende Themen innerhalb der kommunikativen Figuration verhandelt werden. Über das Medienensemble und das Medienrepertoire werden medienbezogene Praktiken in die Analyse kommunikativer Figurationen einbezogen (Hasebrink 2014).
Im Anschluss an Elias werden (kommunikative) Figurationen durch affektive Bindungen (Valenzen) und Machtbalancen zwischen den Akteurinnen und Akteuren strukturiert (Elias 1970; Hepp und Hasebrink 2014). Dabei ist zu berücksichtigen, dass sowohl Valenzen als auch Machtbalancen nicht statisch, sondern dynamisch sind. Dies bedeutet, dass sie über den zeitlichen Verlauf hinweg innerhalb des figurativen Interdependenzgeflechts variieren.
Die Annahme von Hepp und Hasebrink (2017) besteht darin, dass sich der gesellschaftliche Metaprozess der tiefgreifenden Mediatisierung auf der Meso-Ebene in Bezug zur Struktur der sozialen Domänen konkretisiert. Die Art und Weise dieser Konkretisierung kann über das Konzept der kommunikativen Figurationen empirisch und theoretisch erfasst werden. Dabei existieren soziale Domänen nicht isoliert voneinander, sondern sind stets miteinander verwoben. Machtbalancen und Valenzen in kommunikativen Figurationen, wie der sozialen Domäne Familie, können somit auch durch Prozesse außerhalb der konkreten Domäne beeinflusst werden. Soziale Domänen reagieren hierauf wiederum figurationsintern, beispielsweise mit der Ausgestaltung und Modifikation medienerzieherischer Praktiken: So versuchen Eltern, ihre Kinder vor Medienangeboten zu schützen, deren Nutzung ihrer Ansicht nach mit Gefahren für die kindliche Entwicklung einhergehen (Khurana et al. 2015; Livingstone et al. 2017), sie im Ausbilden eigener (kompetenter) Mediennutzungspraktiken zu unterstützen (Pfetsch 2018), oder sie gezielt bei den Privatsphäre-Einstellungen in sozialen Medien zu beraten (Wisniewski et al. 2015). Ausgehend vom Konzept kommunikativer Figurationen kann Medienerziehung somit als Erzeugung einer Machtbalance zwischen Eltern und Kindern konzipiert werden, die durch figurationsexterne Einflussfaktoren wie die technisch-mediale Entwicklung beeinflusst wird. Dynamische Anpassungsleistungen in dieser Machtbalance resultieren insbesondere aus der kontinuierlich auftretenden Notwendigkeit, medienerzieherische Regeln an das Alter und den Entwicklungsstand der Kinder anzupassen (Symons et al. 2017).
Methodisches Vorgehen
Die ‹ConKids-Studie› widmet sich vor dem theoretischen Hintergrund des Konzepts kommunikativer Figurationen dem Aufwachsen in einer tiefgreifend mediatisierten Gesellschaft. Die qualitative Panelstudie umfasst zwei Kohorten, in denen sich die Kinder der untersuchten Familien zum Zeitpunkt der ersten Erhebung kurz nach der Einschulung bzw. dem Übergang auf die weiterführende Schule befanden. Hierdurch ermöglicht das Studiendesign einen Einblick in die medienbezogene Sozialisation Heranwachsender und die damit verbundenen Aushandlungsprozesse sowie medienerzieherischen Praktiken (Kammerl et al. 2021).
In zwei Erhebungswellen (t1: Ende 2018 und t2: Ende 2019) wurden in 32 Familien (14 im Grossraum Hamburg, 18 im Grossraum Nürnberg) leitfadengestützte Interviews mit einem Kind und im Anschluss daran mit einem Elternteil geführt. Zum ersten Erhebungszeitpunkt waren die 16 Heranwachsenden der jüngeren Kohorte zwischen sechs und sieben Jahre, die 16 Kinder der älteren Kohorte zwischen zehn und elf Jahre alt. Das Sample umfasst grösstenteils städtisch lebende Familien und weist eine deutliche Verlagerung hin zu Eltern mit höherem Bildungsabschluss auf (Dertinger et al. 2021).
Die Interviews wurden transkribiert und nach der qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz 2020) mithilfe der Software MAXQDA ausgewertet. Für die Auswertung wurden deduktiv Kategorien auf Basis der theoretischen Grundlage kommunikativer Figurationen angelegt, die im Auswertungsprozess anhand des Datenmaterials induktiv durch entsprechende Subkategorien erweitert wurden. Unter anderem wurde die Kategorie ‹medienerzieherische Praktiken› deduktiv als Teilbereich familialer Aushandlungsprozesse angelegt und während der Auswertung induktiv um Subkategorien erweitert, die im Folgenden die zentralen Bezugspunkte für diesen Artikel sein werden. Ergänzend wurden für jede Familie detaillierte Fallbeschreibungen angefertigt. Für den vorliegenden Beitrag lag ein besonderer Fokus auf den dynamischen Machtbalancen innerhalb der kommunikativen Figuration Familie sowie dem diesbezüglichen Zusammenspiel mit anderen sozialen Domänen. Da sich zwischen den beiden Erhebungswellen nur in wenigen Fällen Veränderungen in Bezug auf medienbezogene Regeln zeigten, werden die Ergebnisse im Folgenden getrennt nach Kohorten, nicht aber nach Erhebungszeitpunkt dargestellt.
Ergebnisse
In den Daten des ‹ConKids-Projekts› zeigen sich vielfältige Aushandlungsprozesse im Kontext der familialen Medienerziehung, die sich als ‹dynamische Machtbalancen› charakterisieren lassen. Dabei entstehen Gefühle von Macht und Machtlosigkeit zwischen den Figurationsmitgliedern der Familie sowie im Wechselverhältnis mit anderen sozialen Domänen.
Dynamische Machtbalancen innerhalb der kommunikativen Figuration Familie
Innerhalb der kommunikativen Figuration Familie kommt den Eltern durch die Möglichkeit, das kindliche Medienrepertoire zu strukturieren, eine gewisse Machtposition zu. Die Strukturierung erfolgt insbesondere durch das Vorgeben zeitlicher und inhaltlicher Nutzungsregeln sowie als Beschränkung des selbstständigen Zugangs zu Medien bis hin zu einem grundsätzlichen Nutzungsverbot bestimmter Geräte oder Anwendungen.
Zeitliche Regeln zur Mediennutzung kommen in fast allen Familien des vorliegenden Samples vor und können sich sowohl auf die Dauer, den Nutzungszeitpunkt oder die -häufigkeit beziehen. Gegenstand der Regeln sind verschiedene elektronische Geräte wie das (eigene) Smartphone, das (gemeinsam genutzte) Tablet oder der Fernseher der Familie. Die Eltern strukturieren die kindlichen Nutzungszeiten mehr oder weniger stark, indem sie entweder Mediennutzungszeiten detailliert für einzelne Endgeräte vorgeben oder einen gebündelten zeitlichen Rahmen für die Mediennutzung setzen. Unterschiede zwischen beiden Kohorten zeigen sich bezüglich der Nutzungsdauer: Während der jüngeren Kohorte häufig strengere zeitliche Regelungen vorgegeben werden, die sich von etwa zehn Minuten bis hin zu zwei Stunden am Tag erstrecken, liegt die erlaubte Nutzungsdauer in der älteren Kohorte zwischen einer halben und etwa drei Stunden täglich. Zudem besteht bei einigen Kindern beider Kohorten die Vorgabe, entsprechende elektronische Geräte nur an bestimmten Tagen nutzen zu dürfen, beispielsweise am Wochenende oder in den Schulferien. Alternativ werden auch Zeitfenster vorgegeben, in welchen diese Geräte (nicht) genutzt werden dürfen (z. B. keine Nutzung vor der Schule oder vor dem Schlafengehen).
In rund zwei Dritteln der Familien – sowohl in der jüngeren als auch der älteren Kohorte – werden inhaltliche Regeln vorgegeben. So dürfen beispielsweise digitale Endgeräte nur für bestimmte Anwendungen genutzt werden, während andere, wie etwa der Internetbrowser, gesperrt sind. So berichtet eine Mutter:
«Ähm, ja, und haben ihnen quasi noch nächtens komplett alles gesperrt, also Google, YouTube. Jeglichen Zugang ins World Wide Web haben die beide nicht.» (Mutter, ältere Kohorte, t1)
Außerdem achten die Eltern auf altersgemäße Inhalte und wählen teilweise gezielt ihrer Meinung nach pädagogisch wertvolle Medienangebote für ihre Kinder aus. In der älteren Kohorte werden bei einem Großteil der Kinder auch Smartphone-Anwendungen beschränkt. Hiervon betroffen sind insbesondere soziale Medien, wie WhatsApp oder TikTok. In wenigen Familien bezieht sich ein derartiges grundsätzliches Nutzungsverbot nicht nur auf einzelne Anwendungen, sondern auch auf bestimmte Endgeräte, z. B. die (Arbeits-)Computer der Eltern.
Eltern des älteren Samples legen weitere individuelle Regeln zur Mediennutzung ihrer Kinder fest. In einigen Familien gibt es unter anderem Vorgaben, an welchen Orten im Haus oder der Wohnung bzw. in welchen Situationen (z. B. während des gemeinsamen Essens) Medien (nicht) genutzt werden dürfen. In einzelnen Familien gibt es auch witterungsbedingte Regeln, die es den Kindern erlauben, bei schlechtem Wetter mehr digitale Medien zu nutzen als üblich. Ebenso ist das Verhalten der Kinder in manchen Familien ausschlaggebend für die erlaubte Mediennutzung. Einerseits wird in einigen Familien die Nutzung bestimmter Medien oder zusätzliche Mediennutzungszeit als Belohnung für positiv wahrgenommenes Verhalten oder gute Noten in Aussicht gestellt. Andererseits wird (die Androhung von) Medienentzug als erzieherische Maßnahme genutzt, wenn sich Kinder sowohl allgemein als auch in der Mediennutzung nicht entsprechend den Vorstellungen der Eltern benehmen oder schlechte Schulleistungen erbringen. Die ‹Bestrafungen› reichen von einem ‹Fernsehverbot› bis hin zum Entziehen des Smartphones oder des Tablets. Medien als ein solches Erziehungsinstrument einzusetzen, scheint im vorliegenden Sample in der älteren Kohorte stärker verbreitet zu sein als in der jüngeren.
Einige Eltern geben ihren Kindern vor, dass diese vor der Nutzung fragen oder zumindest einem Elternteil Bescheid sagen müssen. Andere Eltern haben die Geräte von vornherein durch einen Fingerabdruck oder mit einem PIN-, Zahlen- oder Mustercode gesperrt. Neben solchen allgemeinen Zugangssperren werden auch weitere technische Kontrollmöglichkeiten genutzt, um die Medienpraktiken der Heranwachsenden einzuschränken. So werden Kinder-Nutzerkonten mit einer entsprechenden Altersbeschränkung angelegt oder es kommen verschiedene Anwendungen zur Einschränkung der Mediennutzungszeiten und -inhalte bei Smartphones oder Tablets zum Einsatz, z. B. Family Link, Kids Place, Norton Family, Qualitytime, Screen Time oder Spielzeit.
Die Eltern des Samples verfügen somit über vielfältige Strategien, die der Durchsetzung ihrer medienerzieherischen Vorstellungen gegenüber ihren Kindern dienen. Die dargestellten medienerzieherischen Praktiken repräsentieren dementsprechend ein Machtpotenzial der Eltern im erzieherischen Interdependenzgeflecht. Um dieses adäquat beschreiben zu können, ist es in einem weiteren Schritt notwendig, die Rolle der Kinder in diesem Machtverhältnis zu betrachten. Übergreifend zeigt sich, dass seitens der Kinder den Regelsetzungen der Eltern in den meisten Fällen der Wunsch nach mehr Mediennutzung gegenübersteht, sei es im Allgemeinen oder bezogen auf ein bestimmtes Gerät wie den Fernseher, das Smartphone oder die Spielekonsole. Dieser Wunsch spiegelt sich auch im praktischen Handeln der Heranwachsenden wider. So zeigen sich in beiden Kohorten vielfältige Versuche der Kinder, gezielt medienerzieherische Regeln zu umgehen: Sie versuchen, Medien heimlich länger zu nutzen oder sich durch eine gemeinsame Verwendung mit Freundinnen und Freunden oder Geschwistern längere Nutzungszeiten zu verschaffen:
«[…] Dann wechseln sie immer von hier zu dem nach Hause und dann wird gerne auch da ein bisschen geguckt und bei uns ein bisschen geguckt und natürlich nicht erzählt und so. Das findet schon auch statt.» (Mutter, ältere Kohorte, t1)
In der jüngeren Kohorte wird zudem beschrieben, dass die Kinder dasjenige Elternteil um Erlaubnis bitten, das in Bezug auf die Medienregeln ‹lockerer› zu entscheiden scheint. In der älteren Kohorte wird von Versuchen der Kinder berichtet, z. B. aufgrund von Altersfreigaben nicht erlaubte Medieninhalte ohne Kenntnis der Eltern gemeinsam mit Freundinnen oder Freunden zu konsumieren:
«[…] die ist halt ab sechzehn und Mama erlaubt mir ja nicht, (unv.) zu gucken, deswegen gucke ich sie halt bei ihr, manchmal auf ihrem Computer gucken wir die dann zusammen.» (Mädchen, ältere Kohorte, t2)
So zeigt sich auch aufseiten der Kinder ein gewisses Machtpotenzial, da die medienerzieherischen Intentionen der Eltern nicht immer ohne Widerstand durchgesetzt werden können.
Ein weiterer Aspekt aus dem Datenmaterial ergänzt das Machtpotenzial der Kinder in der Eltern-Kind-Beziehung. In fünf Familien geben Kinder von sich selbst an, die ‹Medienexpertinnen oder -experten› in der eigenen Familie zu sein. Da für den Erwerb der hierfür notwendigen Kompetenzen bestimmte entwicklungsbezogene Voraussetzungen erforderlich sein dürften, ist zu erwarten, dass Kinder diese Rolle erst mit zunehmendem Alter einnehmen. So sind vier dieser fünf Fälle in der älteren Kohorte zu finden. Nicht abschließend geklärt werden konnte in unserem Sample, wie dieser ‹Expertinnen- bzw. Expertenstatus› der Kinder das medienerzieherische Handeln der Eltern beeinflusst. Allerdings könnten den Kindern durch ihre vorhandenen Kompetenzen erweiterte Möglichkeiten offenstehen, vorhandene (technische) Regulierungen zu umgehen. Auch könnten den Kindern aufgrund ihres Status zusätzliche Freiheiten in der Mediennutzung eingeräumt werden.
Ausgehend von den dargestellten medienerzieherischen Praktiken in den beiden untersuchten Kohorten lässt sich zunächst konstatieren, dass sowohl Eltern als auch Kinder über gewisse Machtpotenziale innerhalb des medienerzieherischen Verhältnisses verfügen. Aus figurationstheoretischer Perspektive müssen beide Machtpotenziale allerdings noch innerhalb des gegenseitigen Beziehungsverhältnisses angesiedelt werden.
In den Interviews zeigt sich, dass die medienerzieherische Machtbalance immer wieder neu ausgehandelt wird, beispielsweise wenn neue Regeln aufgestellt werden, Diskussionen über bestehende Regelungen entstehen oder diese grundsätzlich infrage gestellt werden. Allerdings gibt es hier eine deutliche Differenz zwischen der jüngeren und älteren Kohorte. Während solche Aushandlungsprozesse in der jüngeren Kohorte recht selten stattfinden und Regeln meist kaum hinterfragt werden, treten sie in der älteren Kohorte wesentlich häufiger auf. Dabei werden sowohl allgemeine Regelungen bei der Anschaffung neuer Geräte oder der Erlaubnis zur Nutzung neuer Anwendungen als auch Regeln zur Nutzungsdauer sowie Regelunterschiede zwischen den befragten Kindern und deren Eltern bzw. älteren Geschwisterkindern thematisiert. In der älteren Kohorte werden zudem die medienerzieherischen Regelsetzungen im Freundeskreis als Vergleichshorizonte herangezogen, um gegenüber den Eltern eine bessere Verhandlungsposition einzunehmen.
Insgesamt zeigt sich ausgehend von den Aushandlungsprozessen eine Veränderung der medienerzieherischen Regeln im zeitlichen Verlauf. Die Regeln werden von den Eltern nicht dauerhaft beibehalten, sondern kontinuierlich angepasst. Orientierungspunkte hierfür sind die Regeln bei älteren Geschwisterkindern oder befreundeten Eltern. Des Weiteren stellt die Akzeptanz seitens des Kindes für viele Familien einen wichtigen Aspekt für die Regelsetzung dar: Die Eltern versuchen, den Heranwachsenden aufgestellte Regeln zu erklären und bei Diskussionspunkten Kompromisse zu finden. Hier zeigt sich, dass sich die dynamischen Machtbalancen in Richtung der Kinder verschieben können, wenn Eltern auf deren Bedürfnisse eingehen und deren Meinung bei der Aushandlung von Regeln berücksichtigen.
Insbesondere neue Geräte oder Anwendungen bieten in der älteren Kohorte einen Anlass, um neue Regelungen aufzustellen. Die Eltern gehen mit dieser Aufgabe unterschiedlich um: Das Spektrum reicht von Eltern, die von vornherein gemeinsam mit dem Heranwachsenden eine gezielte Recherche betreiben und so eine Art Nutzungsvertrag aushandeln, bis hin zum spontanen Handeln aus einem gewissen ‹Leidensdruck› heraus oder der Überführung eher willkürlicher und vager Regeln in ein klareres System im Nachhinein. Im Sample scheint es teilweise, als würden einige Eltern bei einer als zu stark wahrgenommenen Verschiebung der Machtbalance in Richtung der Heranwachsenden versuchen, regulierend einzugreifen, um wieder mehr Kontrolle über die Medienpraktiken zu erhalten.
Die Familien unterscheiden sich auch darin, wie transparent sie die Regeln gegenüber den Heranwachsenden gestalten. In einigen Familien wird versucht, diese möglichst klar zu kommunizieren, was auch die Kinder positiv bewerten. Andere Kinder – insbesondere der älteren Kohorte – haben wiederum das Gefühl, dass Regeln nicht klar formuliert oder umgesetzt werden. Während Ausnahmen zugunsten der Mediennutzungszeiten von den Kindern als positiv wahrgenommen werden, werden ausgefallene Medienzeiten oder eine zu starke Mediennutzung von Eltern oder Geschwisterkindern häufig stark kritisiert. Wenn sich Eltern in ihren medienerzieherischen Praktiken nicht konsistent verhalten, kann dies das Gefühl der Machtlosigkeit seitens der Kinder befördern.
In den Daten zeichnet sich innerhalb der sozialen Domäne Familie eine Verschiebung der dynamischen Machtbalance in Richtung der Heranwachsenden ab, wenn diese entwicklungsbedingt an Autonomie und damit eigener Handlungskompetenz gewinnen. So handeln sie mit den Eltern gemeinsam Regeln aus, versuchen, solche, die sie als unangemessen wahrnehmen, eigenmächtig zu umgehen und bilden selbst einen kompetenteren Umgang mit digitalen Medien aus. Haben Eltern das Gefühl, dass ihre Kinder eigenverantwortlich mit Medien umgehen können, geben sie den Machtbestrebungen der Heranwachsenden tendenziell eher nach und formulieren weniger strenge oder keine Regelungen bezüglich der Mediennutzung.
Dynamische Machtbalancen im Zusammenspiel mit figurationsexternen Faktoren
Ausgehend von der Betrachtung der Familie als kommunikative Figuration (Hepp und Hasebrink 2017) kann diese nicht als losgelöst von weiteren gesellschaftlichen Kontexten verstanden werden, sondern ist mit anderen sozialen Domänen verwoben, weshalb auch deren Einfluss auf das medienerzieherische Handeln der Familie zu berücksichtigen ist. Die Interdependenzgeflechte zu anderen Domänen umfassen ebenfalls Machtbalancen. Der Einfluss externer sozialer Domänen auf die Familie gestaltet sich sehr heterogen von weiteren Familienmitgliedern über die Kernfamilie hinaus, über die Freundeskreise der Heranwachsenden und der Elternteile sowie die Schule bis hin zu Medienkonzernen und -plattformen.
Einige Familien berichten von einem Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber gesellschaftlichen Ansprüchen, welche an ihre eigene und im Speziellen die Mediennutzung der Kinder gestellt werden. Hierbei wird u. a. thematisiert, Kinder würden in der heutigen Gesellschaft zu früh mit digitalen Medien konfrontiert. Die Eltern haben das Gefühl, den Heranwachsenden digitale Endgeräte, allen voran ein eigenes Smartphone, anschaffen zu müssen oder ihnen die Nutzung verschiedener Anwendungen, z. B. sozialer Medien oder Videospiele, erlauben zu müssen, damit diese nicht von den Peers sozial ausgegrenzt werden. Beispielsweise berichtet eine Mutter:
«Es macht so einen unnötigen Druck, dass die Kinder jetzt ein Handy brauchen, weil die brauchen keins, also nicht zwingend [...].» (Mutter, ältere Kohorte, t1)
Einige Eltern berichten zudem von der Wahrnehmung, dass ein eigener Google- bzw. WhatsApp-Account für die Heranwachsenden inzwischen unumgänglich sei, obwohl die Kinder laut der Nutzungsbedingungen noch zu jung seien. Die entsprechenden Anregungen kämen sowohl aus dem Freundeskreis der Heranwachsenden, wenn entsprechende Medien zu einem alltäglichen Thema werden, als auch von anderen Eltern oder aus dem erweiterten Familienkreis, wenn Eltern darauf angesprochen werden, ob sie ihren Kindern nicht diese Medienanschaffungen erlauben sollten:
«Aber ich sag mir (..), das war wirklich, wo ich sage, ich erzieh eigentlich, aber es kam dieser ganze Druck dann und das Kind muss mit der Zeit gehen. Und bleib nicht auf dem laufenden, alle andern können das, er kann nichts.» (Mutter, ältere Kohorte, t2)
Auch wenn sie nicht direkt darauf angesprochen werden, sehen sich Eltern doch im eigenen Bekanntenkreis immer wieder mit Gesprächen rund um das Thema Medien(-erziehung) konfrontiert, wodurch sie zur Reflexion hinsichtlich des Umgangs mit diesen Erwartungshaltungen und der Gestaltung von Medienpraktiken innerhalb der eigenen Familie angeregt werden.
Zudem sehen sich Eltern einer gewissen Machtlosigkeit gegenüber den Onlinepraktiken der Heranwachsenden konfrontiert. Bereits in der jüngeren Kohorte wird die Furcht thematisiert, dass Kinder online auf unangemessene Inhalte stoßen könnten, diese wird in der älteren Kohorte noch durch die Nutzung sozialer Medien verstärkt. Hier befürchten Eltern zusätzlich, dass ihre Kinder Opfer von ‹Mobbing› oder ‹Spam› werden könnten. Zudem sind sie sich häufig nicht sicher, welche Datenspuren ihre Kinder, aber auch sie selbst im Internet hinterlassen.
Den Eltern fällt es schwer, diese wahrgenommenen Situationen in für sie als angemessen erachtete medienerzieherische Praktiken zu überführen. So fehlt ihnen, abgesehen von einem allgemeinen Verbot dieser Medienpraktiken oder einem strengen Überwachen der Onlineaktivitäten, größtenteils eine Bewältigungsstrategie für die dargestellten Probleme. Einige von ihnen reagieren auf diese Ausgangslage, indem sie die Medienpraktiken ihrer Kinder stark überwachen oder im Nachhinein beispielsweise anhand von Chat-Nachrichten überprüfen.
Um in Anbetracht der von ihnen wahrgenommenen Machtlosigkeit eine gewisse Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen, nehmen einige Eltern Informations- und Beratungsangebote wahr oder versuchen, sich gemeinsam mit den Heranwachsenden mit digitalen Medien und eventuell auftretenden Problematiken auseinanderzusetzen. Sie unterstützen ihre Kinder bei der Nutzung und der Auswahl geeigneter Medieninhalte, beim Anlegen eigener (Online-)Accounts oder sprechen miteinander über Unklarheiten oder Unannehmlichkeiten bei der Nutzung. Diese gemeinsame Auseinandersetzung geschieht im vorliegenden Sample tendenziell häufiger in der jüngeren Kohorte als in der älteren. Sie zeigt sich auch im vorliegenden Beispiel eines Kindes aus der jüngeren Kohorte:
«[...] also da sammelt er Fragen, die er hat. Und dann, wenn wir Zeit haben, dann versuchen wir, die zu beantworten. Vieles lässt sich einfach nicht / kriege ich nicht beantwortet und dann gucken wir auch im Rechner.» (Vater, jüngere Kohorte, t1)
Die dargestellten Strategien scheinen allerdings nur bedingt zu einer Verlagerung der wahrgenommenen Machtbalance beizutragen, da sie punktuell einzelne Problematiken adressieren, ohne eine allgemeine Lösung zu schaffen. Auch wenn sich die meisten Elternteile wünschen, dass ihre Kinder (später) einen kompetenten Umgang mit Medien erlernen, sind sie unsicher, ob ihre eigenen medienbezogenen und medienerzieherischen Kompetenzen ausreichen, um ihre Kinder gegenüber dieser Entwicklung ausreichend zu unterstützen.
Ein Gefühl der Machtlosigkeit zeigt sich bei einigen Kindern – sowohl der jüngeren als auch der älteren Kohorte – anhand ihrer Überforderung im Umgang mit digitalen Medien. Sie nehmen bei sich selbst teils fehlende Medienkompetenzen wahr, die sich vor allem in Problemen mit der Bedienung digitaler Medien ausdrückt. Darüber hinaus wird beschrieben, dass sich einige Kinder emotional oder bei der Selbstregulierung der Nutzungszeit überfordert fühlen und teilweise eine gewisse Suchtgefahr digitaler Anwendungen an sich selbst wahrnehmen. Zudem fühlen sich die Heranwachsenden häufig den sozialen Erwartungen der Peers ausgesetzt, wonach verschiedene Medienpraktiken zur Voraussetzung für gemeinsame soziale Interaktionen werden. Dieser soziale Druck, digitale Medien den Vorstellungen Dritter gemäß zu nutzen, kann ein Gefühl der Machtlosigkeit bestärken, wenn die Kinder über keine Handlungsstrategien verfügen, um den sozialen Erwartungen angemessen begegnen zu können. Wenn die Eltern eine solche Überforderung der eigenen Kinder wahrnehmen, versuchen sie, teilweise, durch (medien-)erzieherische Maßnahmen einzugreifen und stellen oben beschriebene inhaltliche oder zeitliche Regelungen auf.
Fazit
Im vorliegenden Beitrag wurde das medienerzieherische Machtverhältnis in der sozialen Domäne Familie über den Ansatz der (kommunikativen) Figurationen beschrieben. Mit Blick auf das innerfamiliale Verhältnis konnten dabei anhand von Daten der ‹ConKids-Studie› sowohl aufseiten der Eltern als auch aufseiten der Kinder spezifische Machtpotenziale aufgezeigt werden. Unter Berücksichtigung des Beziehungsverhältnisses zwischen Eltern und Kindern war es möglich, beide Machtpotenziale aufeinander zu beziehen und die machtbezogenen Aushandlungsprozesse zwischen den Akteurinnen und Akteuren zu betrachten. In einem weiteren Schritt erlaubte dieses Vorgehen, figurationsexterne Machtverhältnisse einzubeziehen, die eine Auswirkung auf die familiale Medienerziehung nehmen bzw. nehmen können.
In der Analyse der familieninternen medienerzieherischen Machtbalancen zeigen sich erwartungsgemäß mit zunehmendem Alter der Kinder größere Autonomiebestrebungen und intensivere medienbezogene Aushandlungsprozesse. Auffällig ist dagegen das von den Familienmitgliedern wahrgenommene Machtgefälle gegenüber figurationsexternen sozialen Domänen. Hierbei zeigten sich im vorliegenden Sample viele gesellschaftliche Bedingungen, die ein Gefühl der Machtlosigkeit in den untersuchten Familien im Hinblick auf das eigene Medienhandeln und die Möglichkeiten in der Medienerziehung bedingen. Die hierfür verantwortlichen gesellschaftlichen Entwicklungen können als Konsequenzen des Meta-Prozesses tiefgreifender Mediatisierung verstanden werden, die sich durch die Trends der Differenzierung technischer Kommunikationsmöglichkeiten, der durch Kommunikationsmedien bedingten Konnektivität, der Omnipräsenz von Medien, einer hohen technischen Innovationsdichte und der Datafizierung mediengestützter Kommunikation auszeichnet (Hepp 2019).
Die erlebte Machtlosigkeit wirkt sich innerfamilial auch auf die Medienerziehung aus, indem die Eltern versuchen, ihre Kinder vor von ihnen als problematisch eingeschätzten Medienangeboten zu schützen oder diese bei der Befähigung zu einer kompetenten Mediennutzung zu unterstützen. Für beide Aspekte scheinen den Eltern aber nur begrenzt tragfähige Strategien zur Verfügung zu stehen. Aus medienpädagogischer Perspektive stellt sich deshalb die Frage, wie und inwiefern die Machtposition der Familie gegenüber figurationsexternen Einflüssen gestärkt werden kann. Wichtig erscheint hier eine Förderung der Handlungskompetenz sowohl der Eltern als auch der Kinder. Um ihnen entsprechende Möglichkeiten zum Kompetenzerwerb zur Verfügung zu stellen, sollten die Eltern neben eigenen medienbezogenen Fähigkeiten und Fertigkeiten insbesondere ihre medienerzieherischen Kompetenzen weiterentwickeln. So könnten sie die Aufgabe einer kritisch-konstruktiven Medienerziehung erfüllen und Kindern anstelle starker Restriktionen sowohl Chancen im Umgang mit digitalen Medien bieten als auch ihnen Strategien für aufkommende Problematiken an die Hand geben (Livingstone et al. 2017; Pfetsch 2018). Eine solche Form der Medienerziehung unterstützt die zielgerichtete Aneignung von und ein souveränes Handeln mit digitalen Medien der Heranwachsenden (Schorb und Wagner 2013). Die Förderung einer solchen Medienkompetenz könnte demnach weiterführend dazu beitragen, das Machtpotenzial der kommunikativen Figuration Familie gegenüber ‹figurationsexternen Einflussfaktoren› zu stärken. Der individuelle kompetente, selbstbestimmte und sichere Umgang mit digitalen Medien kann allerdings, wie im theoretischen Konzept der «Digitalen Souveränität» postuliert, nicht unabhängig von sozialen, technischen und rechtlichen Rahmenbedingungen betrachtet werden (Müller et al. 2020). So darf neben den medienerzieherischen Möglichkeiten der Eltern zum Ausgleich des wahrgenommenen Machtgefälles auch die Verantwortung seitens des Staates, der Medienkonzerne und -plattformen sowie insbesondere der Bildungsinstitutionen nicht vergessen werden.
Hinsichtlich der gewählten Perspektive ist zu berücksichtigen, dass das Machtverhältnis zwischen Erziehenden und Zu-Erziehendem zwar ein wichtiges Merkmal des Erziehungsbegriffs ist, es allerdings zu kurz greift, wenn nur diesem Aspekt Rechnung getragen wird. Aus Sicht eines nicht-affirmativen Erziehungsverständnisses sollte Erziehung nicht in einem asymmetrischen Rollenverhältnis verharren, sondern in eine intergenerationale Fragedimension überführt werden (Benner 2015, 150f.). Mit spezifischem Blick auf die Medienerziehung sollten außerdem weitere Einflussfaktoren aufseiten der Eltern berücksichtigt werden wie der persönliche Medienumgang, die medienbiografischen Erfahrungen und die medienbezogenen Einstellungen. Aber auch allgemeine erzieherische Aspekte des Familienklimas oder der emotionalen Bezogenheit zwischen Eltern und Kindern können über eine alleinige Beschreibung der Medienerziehung als dynamische Machtbalance nicht abgedeckt werden (Lampert und Schwinge 2013).
Aus forschungsmethodischer Perspektive muss bei den vorliegenden Ergebnissen die Verlagerung des Samples hin zu einem höheren formalen Bildungshintergrund der Eltern kritisch hinterfragt werden. Auch wenn sich die Befunde zu möglichen Einflüssen des Bildungshintergrundes heterogen gestalten, gibt es klare empirische Hinweise auf Zusammenhänge zwischen der medienbezogenen Sozialisation von Heranwachsenden und dem sozioökonomischen Hintergrund ihrer Familie (Paus-Hasebrink 2017). So dürfte auch im vorliegenden Sample der sozioökonomische Hintergrund die dynamischen Machtbalancen innerhalb der medienerzieherischen Praktiken beeinflussen.
Trotz dieser zu berücksichtigenden Einschränkungen ermöglicht die figurationstheoretische Betrachtung dynamischer Machtbalancen, den Wechselwirkungen und Veränderungen in der medienerzieherischen Beziehung Rechnung zu tragen und diese dadurch als prozessuales Geschehen zu charakterisieren. Darüber hinaus liegt das Potenzial dieses Ansatzes darin, figurationsexterne Einflussfaktoren in die Betrachtung einzubeziehen und diese in ihren Auswirkungen auf das innerfamiliale Interdependenzgeflecht zu beschreiben.