Anmerkungen zu forschungsbezogenen und bildungspolitischen Aspekten der Studie Jugend/Kunst/Erfahrung. Horizont 2015 >> Eine Position

Die Studie „Jugend/Kunst/Erfahrung. Horizont 2015“ ist eine Repräsentativbefragung des Instituts für Demoskopie Allensbach unter SchülerInnen der 9. und 10. Klassen an allgemeinbildenden Schulen zu ihrem Kulturverständnis, zu kulturellen Interessen und Aktivitäten, initiiert vom Rat für Kulturelle Bildung. Die Ergebnisse der Studie werden von Christian Rittelmeyer, Mitglied des Rates für Kulturelle Bildung, in einer „Position“ erörtert. Seine Reflexionen - als Teil der Veröffentlichung - werden mit freundlicher Genehmigung des Rates auch auf kubi-online vorgestellt.

Artikel-Metadaten

von Christian Rittelmeyer

Erscheinungsjahr: 2015

Stichwörter

Werner Süßlin hat im vorhergehenden Kapitel einen ersten Einblick in wichtige Resultate der Studie Jugend/Kunst/Erfahrung. Horizont 2015 gegeben. Beschäftigt man sich darüber hinaus vertiefend mit den Statistiken und freien Äußerungen der Befragten, werden einige weitere Perspektiven auf wünschenswerte Forschungen und bildungspolitische Fragestellungen sichtbar, die den Diskurs in der Kulturellen Bildung insgesamt bereichern können. Ich möchte diese Behauptung mit einigen Interpretationsbeispielen veranschaulichen, wobei natürlich meine persönlichen Akzentsetzungen maßgebend sind, ausdrücklich aber in der Erwartung, dass sich Forscherinnen und Forscher intensiver mit dem hier präsentierten Datenmaterial auch von ganz anderen Fragestellungen her auseinandersetzen. (Christian Rittelmeyer)

Zusammenhang zwischen kulturellen Interessen und fächerübergreifender Bildungsaspiration

Diejenigen, die ein ausgeprägteres generelles Interesse an Kultur bekunden, geben nicht nur wesentlich häufiger Deutsch, Kunst und Musik als Lieblingsfächer an, sie nennen auch deutlich häufiger als die weniger Kulturinteressierten nichtkünstlerische Fächer wie Geschichte, Biologie, Erd- oder Sozialkunde als bevorzugte Fachgebiete (während für Arbeitslehre/Technik ein schwach ausgeprägter umgekehrter Trend zu erkennen ist). Dabei ist zu beachten, dass der Kulturbegriff von den meisten Jugendlichen mit den ‚klassischen Künsten‘ assoziiert wird: Auf die Frage, was für die Schülerinnen und Schüler zur Kultur gehört, nannten 83 Prozent die Malerei, gefolgt vom Theater (79 Prozent), von der klassischen Musik (73 Prozent), der Oper (70 Prozent) und Bildhauerei (69 Prozent). Die deutliche Korrespondenz der künstlerischen mit außerkünstlerischen Fachvorlieben ist überraschend, denn sie scheint anzudeuten, dass kulturelle Interessen sich mindestens in einer wesentlichen Teilgruppe der Befragten nicht isoliert von außerkünstlerischen Interessen entwickeln, sondern Ausdruck einer umfassenderen Bildungsaspiration sind. Untergliedert man die Antworten auf die Frage, welche Schulfächer die Befragten besonders gern mögen, nach den bekundeten eigenen kulturellen Interessen, so ergeben sich für das Fach Sport keine wesentlichen Differenzen; Fremdsprachen dagegen werden von 63 Prozent der sehr an Kultur Interessierten, aber nur von 18 Prozent der wenig oder überhaupt nicht an Kultur Interessierten als gern besuchte Fächer genannt (Differenz: 45 Prozentpunkte). Für Deutsch lautet die entsprechende Differenz: 44 Prozent, für Biologie: 21 Prozent, für Kunst 43 Prozent, für Musik 44 Prozent, für Geschichte 35 Prozent, für Erdkunde 20 Prozent, für Sozialkunde 21 Prozent und für Religion/Ethik 20 Prozent. Die nur von maximal 21 Prozent der Befragten favorisierten MINT-Schulfächer Physik und Chemie weisen dagegen keine Korrelationen zu den kulturellen Interessen auf. In der Gruppe jener Kinder, die ein eigenes kulturelles Interesse angeben, bekunden erheblich mehr (72 Prozent), gern zur Schule zu gehen als Kinder ohne solche Interessen (23 Prozent).

Wechselspiel von allgemeiner Bildungsaspiration und künstlerischen Interessen

Auch in der 2. Studie zum Jugend-KulturBarometer zeigte sich, dass die Interessen an verschiedenen Kunstsparten (Tanz, bildende Kunst, klassische Musik, Theater etc.) ausgeprägter bei jenen 14- bis 24-jährigen jungen Menschen waren, die sich gleichzeitig auch für Politik und Zeitgeschichte interessierten (Keuchel/Larue 2012:181). Das lässt ebenfalls die erwähnte Vermutung zu, dass die künstlerischen Fachvorlieben mindestens zu einem signifikanten Anteil durch eine fächerübergreifende Bildungsaspiration dieser Schülerinnen und Schüler motiviert werden. Dass diese mit dem auf vielfältige Weise an Kinder vermittelten Schulbildungsniveau der Eltern zusammenzuhängen scheint, wird gleich noch gesondert zu besprechen sein. Meine Vermutung ist, dass die allgemeine, wenn auch nicht alle Fachdisziplinen betreffende Bildungsaspiration nicht nur künstlerische Interessen anregt, sondern ebenso auch durch künstlerische Aktivitäten motiviert wird: In dieser Hinsicht zeigt sich die Relevanz der sogenannten Transferforschung, die nach außerkünstlerischen Wirkungen künstlerischer Tätigkeiten fragt und solche Effekte auch nachweisen konnte (vgl. Rittelmeyer 2012 und Winner/Goldstein/Vincent-Lancrin 2013).

Zwar wird in weiteren Studien zu prüfen sein, welches Gewicht bestimmten „Hintergrundvariablen“ wie der elterlichen Schulbildung etwa in Strukturgleichungsmodellen mittels Regressionsanalysen jeweils zugesprochen werden kann. (In der Studie Jugend/Kunst/Erfahrung. Horizont 2015 dominieren ordinalskalierte Antwortalternativen, für die Rangkorrelationen errechnet wurden. Für komplexere statistische Analysen wären intervallskalierte Antworttypen vorauszusetzen.) Sollten jedoch die kulturellen Interessen der Schülerinnen und Schüler sich auch in weiteren Studien als Ausdruck einer überfachlichen (wenn auch nicht alle Fächer betreffenden) Bildungsaspiration erweisen, wäre durch Forschungen aufzuhellen, wie diese Motivlage beschaffen ist und welche Folgerungen sich daraus für die Schulstruktur und Didaktik ergeben – diese Strukturmerkmale können dann vermutlich nicht nur mit Blick auf die künstlerischen Fächer erörtert werden, sie betreffen die gesamte Schulkultur, in der möglicherweise PISA-Kompetenzen aus den Disziplinen Deutsch und Biologie enger mit künstlerischen Angeboten in den Schulen verbunden sind, als man sich das in Gremien wie der OECD vorstellt. Aber der Nachweis des komplexen Zusammenspiels künstlerischer und außerkünstlerischer Lernerfahrungen wie -interessen bei der Entstehung einer allgemeinen Bildungsaspiration könnte darüber hinaus deutlich machen, dass künstlerischen Fächern das gleiche Gewicht für die schulische Bildung zugesprochen werden muss wie den MINT- oder PISA-Fächern.

Welche Folgerungen ergeben sich aus der Einsicht, dass kulturelle Interessen zu einem vermutlich erheblichen Anteil ebenso Ausdruck wie Initiatoren einer allgemeineren Bildungsaspiration der Jugendlichen sind? Notwendig – das zeigen bisherige Forschungen – ist ein möglichst frühzeitiges und natürlich entwicklungsgemäßes Vertrautwerden der Kinder mit den Künsten – das betrifft beispielsweise den Besuch von Museen, den Kontakt mit Künstlerinnen und Künstlern, das Kennenlernen der Instrumente eines Sinfonieorchesters, das Malen und Theaterspielen im Vor- und Grundschulbereich. Ausdrücklich sei an dieser Stelle auf wichtige zivilgesellschaftliche Aktivitäten wie das Verbundprojekt der Bertelsmann Stiftung mit dem Hessischen Kultusministerium „Die musikalische Grundschule“ oder auf das Programm „KulturTagJahr“ der ALTANA Kulturstiftung hingewiesen, die Partnerschaften zwischen Schulen und Künstlerinnen/Künstlern fördern. Es sei zudem auf Musikkindergärten und Projekte der Theater wie Sinfonieorchester mit Schulkindern verwiesen – in dieser Hinsicht gibt es gegenwärtig eine erfreulich rege Kulturlandschaft, die aber, soweit das noch nicht geschieht, evaluiert werden sollte. Auch vom BMBF geförderte Projekte wie das Programm „Jedem Kind ein Instrument“ (JeKi) sind hier zu nennen.

Auch in dieser Hinsicht sollten zunächst weitere empirische Untersuchungen angeregt werden. Denn die Kulturinteressen Jugendlicher dürften, das zeigen schon die Daten der vorliegenden Studie, in einem komplexen Zusammenhang entstehen, in dem verschiedenste Akteure (die Jugendlichen selber, ihre Eltern und deren Bildungshintergrund, Gleichaltrige, schulische Angebote etc.) bedeutsam sind. Vermutlich lässt sich daher auch der empirisch festgestellte Zusammenhang eines frühen und häufigen Vorlesens im Elternhaus mit späteren besseren Schulnoten in verschiedenen Fächern nicht als einfache Kausalität deuten, sondern als ‚Baustein‘ in einem komplexeren Förderungszusammenhang der Bildungsaspiration von Kindern und Jugendlichen (vgl. Ehmig/Reuter 2013). Weitere empirische Forschungen sollten aufklären, wie der Zusammenhang künstlerischer mit nichtkünstlerischen Fachinteressen und ihren familialen Moderatoren beschaffen ist, der offenbar viel dichter ausfällt, als man das bisher angenommen hat. In subjektiver Hinsicht dürfte es dabei um einen Orientierungshabitus gehen, den man mit Begriffen wie allgemeine Bildungsaspiration, Kultur der intellektuellen Aufmerksamkeit und Neugier oder executive attention umschreiben kann.

Die entscheidende Bedeutung des Elternhauses

Bedeutsam in diesem Zusammenhang sind auch die Antworten auf die Frage, durch welche Institutionen beziehungsweise Personen kulturelle Interessen geweckt wurden: Von den 70 Prozent der Jugendlichen, die angaben, sich sehr oder etwas für Kultur zu interessieren, berichteten 53 Prozent, dass sich ihr Interesse „einfach so entwickelt“ habe, von rund 50 Prozent wurden die Eltern als Anreger und von rund 36 Prozent wurden Lehrerinnen und Lehrer als „Wecker“ kultureller Interessen genannt. Freunde wurden von 22 Prozent, Künstlerinnen und Künstler von rund 13 Prozent genannt (wobei Mehrfachnennungen möglich waren). Natürlich muss man solche Angaben vorsichtig interpretieren; die komplexen Wirkungen des schulischen Unterrichts oder von individuellen Lehrerempfehlungen auf kulturelle Interessen sind Jugendlichen nicht unbedingt durchschaubar: So kann beispielsweise die Beschäftigung mit Hochkulturen wie der babylonischen oder altägyptischen im Unterricht langweilen, in Wahrheit aber schon eine Disposition hervorrufen, sich später – in anderen Lebenskontexten – damit intensiver zu befassen. Und Eltern können indirekt beispielsweise kulturelle Interessen dadurch wecken, dass sie die intellektuelle Neugier ihrer Kinder fördern: In einer SPIEGEL-Umfrage zu den Vorstellungen und Interessen junger Menschen zwischen 14 und 29 Jahren stuften auf die Frage, was oder wer das eigene Denken am meisten beeinflusst habe, 61 Prozent die Eltern als wesentliche Einflussinstanz ein, nur 8 Prozent die Lehrer (DER SPIEGEL 38/1994:75).

Zusammenhang zwischen Bildungshintergrund der Eltern und kulturellem Interesse

Eltern können ihre Kinder aber auch dadurch indirekt hinsichtlich ihrer Kulturinteressen beeinflussen, dass sie einen Bücherschrank besitzen, der Kinder neugierig macht und zum ‚Stöbern‘ anregt – einer der Befragten berichtete, Wilhelm Buschs Bildergeschichten im großelterlichen Bücherschrank gefunden und sich dann durch dieses Bücherarsenal „durchgelesen“ zu haben; ähnliche Berichte gibt es aus der biografischen Literatur (z.B. Walser 1965:113ff.).

In einer Studie zum Thema „Schulqualität und Schülerleistungen“ wird dieser Umstand ebenfalls hervorgehoben (Köller/Trautwein 2003:Kapitel 5). Die Autoren betonen, dass „kulturelles Kapital“ wie zum Beispiel ein vermehrter Bücherbesitz im Elternhaus nachweislich zu besseren Leistungen der Kinder führen kann (ebd.:69). Dieser „elterliche Besitz an Kulturgütern“ ist, wie sich in der PERLE-Studie zeigte, mit dem sozioökonomischen Status der Eltern korreliert (r = 0.39), das heißt, Eltern mit höherem sozioökonomischen Status verfügen im statistischen Trend häufiger über „anspruchsvolle Literatur“ (Tillack/Mösko 2013:139). Es ist auch bemerkenswert, dass die 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler der Studie Jugend/Kunst/Erfahrung, die ein besonderes kulturelles Interesse bei ihren Eltern konstatierten, dieses in 51 Prozent der Fälle feststellten, wenn die Eltern ein Studium absolviert hatten; in nur 11 Prozent der Fälle wurde dieses Eltern-Interesse berichtet, wenn dort ein „mittlerer oder einfacher“ Abschluss vorlag. Sieht man sich mit dieser Frage nach dem Elternhaus als Unterstützungssystem für kulturelle Interessen die beiden explizit künstlerischen Fächer Kunst und Musik in den Tabellen der Untersuchung genauer an und prüft ihre Wahlhäufigkeit als Lieblingsfächer in Relation zum Bildungshintergrund der Eltern, so zeigen sich hier – im Unterschied zum Fach Sport – deutliche Korrelationen: Kinder von Eltern mit einem Studium wählen diese Fächer wesentlich häufiger als solche aus Elternhäusern ohne derartige akademische Abschlüsse. Wesentliche Unterschiede dieser letztgenannten Gruppen zu den Kindern mit Migrationshintergrund bestehen nicht. Solche Korrelationen kultureller Vorlieben und Praxen zum schulischen Bildungsniveau haben sich unter anderem auch in Studien zur Häufigkeit des Geschichtenerzählens im Elternhaus gezeigt; dieses scheint wiederum wesentliche Motive für spätere Interessen am Bücherlesen und damit für die sogenannte Lesekompetenz hervorzubringen (Ehmig/Reuter 2013:48). Interessant ist ferner, dass häufiges Vorlesen in Migrantenfamilien mit relativ niedrigem Schulbildungsniveau der Eltern häufiger von Migranten aus Ost-Europa und Russland berichtet wird als aus West- und Südeuropa. Die entsprechenden Stichproben sind allerdings aus meiner Sicht zu schmal, um solche Resultate schon verallgemeinern zu können.

In diesem Zusammenhang scheint mir für zukünftige Forschungen, aber auch für die kritische Diskussion über „Bildungsbenachteiligung“ durch das Herkunftsmilieu von Kindern eine methodologische Überlegung hilfreich und weiterführend zu sein. Wie aus den Umfrage-Daten der Studie Jugend/Kunst/Erfahrung hervorgeht, gibt es deutliche Indizien für eine Abhängigkeit der kulturellen Interessen Jugendlicher vom Bildungshintergrund der Eltern: Höhere Schulabschlüsse der Eltern korrelieren in einem gewissen Ausmaß mit ausgeprägteren Kulturinteressen ihrer Kinder. Die Rangkorrelation in Höhe von 0.22 zwischen Schulbildungs-Niveau der Eltern und bekundetem kulturellen Interesse der Jugendlichen legt zwar nahe, dass diese Interessen zu mehr als 90 Prozent durch andere Bedingungen als das erwähnte elterliche Abschlussniveau beeinflusst werden (zu einem wesentlichen Teil sicher auch durch die Eigenaktivitäten der Schülerinnen und Schüler), aber sie sind dennoch wichtig für Didaktik und Bildungspolitik. Greift man jene Teilgruppe befragter Jugendlicher heraus, die sich „etwas“ für Kultur interessieren (51 Prozent der Gesamtgruppe), sind die erwähnten Korrelationen wesentlich schwächer als in der Gruppe, deren Mitglieder sich „sehr“ für Kultur interessieren (19 Prozent). In dieser Hinsicht müssten die Daten also noch differenzierter ausgewertet werden. Was die Abhängigkeit oder korrelative Beziehung kultureller Interessen vom beziehungsweise zum schulischen/akademischen Bildungsstand der Eltern betrifft, sind hier jedoch deutliche Analogien zu den Erkenntnissen des DIW aus Daten des Sozioökonomischen Panel (SOEP) sowie aus dem 2. Jugend-KulturBarometer zu konstatieren (Hille 2014:4; im Blickpunkt stehen hier Schülerinnen und Schüler im Alter von 16 Jahren; Keuchel/Larue 2012:13; die Stichprobe umfasst allerdings eine größere Altersstreuung von 14- bis 24-Jährigen.).

Auch auf die vielfach belegte Abhängigkeit der Schülerleistungen vom sozialen beziehungsweise sozioökonomischen Milieu der Herkunftsfamilien ist in diesem Zusammenhang hinzuweisen (z.B. PISA-Konsortium Deutschland 2008; siehe auch die auf organische Grundlagen der Intelligenzentwicklung in verschiedenen Elternhaus-Milieus eingehende Studie von Kimberly/Houston/Brito u.a. 2015:773ff.). Zwar ist der in der vorliegenden Studie erhobene Schulbildungs-Stand der Eltern nur ein Merkmal des „sozioökonomischen Status“ neben weiteren Kenngrößen wie dem derzeitigen Beruf, Einkommen usw., aber doch ein konstitutives (so etwa im „International Socio-Economic Index“ ISEI).

Korrelation zwischen Wertschätzung der Eltern für künstlerische Fächer und eigener Einstufung durch die Jugendlichen

Ebenso wichtig scheint mir aber ein anderer Aspekt zu sein, der in der öffentlichen Diskussion häufig zugunsten pauschaler Feststellungen solcher „milieubedingter Bildungsbenachteiligungen“ übersehen wird: Ausgeprägte Bildungsaspirationen, kulturelle Interessen und schulische Leistungen junger Menschen entwickeln sich den Daten zufolge auch in eher als ungünstig angesehenen Herkunftsfamilien. Neuere Forschungen berücksichtigen daher nicht nur den Bildungsgrad der Eltern oder umfassender deren sozioökonomischen Status als mögliche Bedingungsvariable für Schulleistungen oder kulturelle Interessen, sondern auch sogenannte elterliche Prozessmerkmale wie die erwähnten „kulturellen Besitztümer“ (etwa Bücher) oder die elterliche Werteerziehung und Wertschätzung für das Tun ihrer Kinder (z.B. Tillack/Mösko 2013:128ff.). Es wird davon ausgegangen, dass solche Prozessmerkmale keineswegs in strenger Abhängigkeit von den Statusmerkmalen bedeutsam für die Leistungs- und Interessenentwicklung von Jugendlichen sind. Diese Erwartung scheint Bestätigung zu finden in dem interessanten und überraschenden Befund der Studie Jugend/Kunst/Erfahrung, dass eine Korrelation zwischen der durch die Schülerinnen und Schüler erlebten und berichteten Wertschätzung ihrer Eltern für den Kunst-, Musik- und Literaturunterricht und ihrer eigenen Einstufung von dessen Wichtigkeit besteht: Je höher die erlebte Wertschätzung der Eltern für den Kunstunterricht ihrer Kinder ist, umso häufiger wird im statistischen Schnitt auch von den Jugendlichen dessen Wichtigkeit betont. Hier kann man eines jener für jede Bildungspraxis wichtigen Motive vermuten, die auch unter ungünstigen Statusmerkmalen des Elternhauses die kulturellen Interessen der Schülerinnen und Schüler unterstützen und faktisch fördern. Dieses aber dürfte, wie zuvor nahegelegt, ein wichtiges Motiv auch bei der Entwicklung einer allgemeinen Bildungsaspiration sein.

Im Hinblick auf die heute vielfach betonte „Bildungsbenachteiligung“ von Kindern aus sozioökonomisch eher schlecht gestellten Elternhäusern ist daher eine differenziertere Forschung erforderlich, als sie bisher zu beobachten ist. Sie gilt der Frage nicht nur nach dem für das Kulturinteresse Jugendlicher so wesentlichen Bildungsmilieu im Elternhaus, sondern ebenso der bisher kaum untersuchten Frage, warum viele Kinder auch unter Bedingungen eher ungünstig erscheinender Herkunftsmilieus starke kulturelle Interessen ausprägen. Hier ist ein Blickwechsel ähnlich dem sogenannten salutogenetischen Wandel der Gesundheitswissenschaften wünschenswert: Wurde dort traditionell vorrangig danach gefragt, was bestimmte Krankheiten (wie Diabetes, Krebs oder Erkältungen) hervorruft oder begünstigt, so richtete sich unter dieser neuen Perspektive die Aufmerksamkeit auf die Frage, was gesund erhält, was Kinder stark macht; entsprechend wäre mit Blick auf die Milieuabhängigkeit kultureller Interessen zu fragen, warum ein erheblicher Teil der Jugendlichen auch aus eher „bildungsfernen“ Familien dennoch starke kulturelle Interessen ausbildet (siehe dazu auch die aufschlussreichen biografischen Berichte in: Bertelsmann Stiftung 2008:38). Es sind also, anders ausgedrückt, alle in der Befragung deutlich werdenden statistischen Trends zu studieren. Das kann vertiefend durch die Auswertung biografischer Berichte geschehen, die zeigen, wie nachdrücklich einzelne Kinder auch unter ungünstigen Bedingungen ihre kulturellen Fähigkeiten ausbilden. Es sollten darüber hinaus aber auch (wohl vorrangig qualitativ angelegte) empirische Studien gefördert werden, die das komplexe Wechselgeschehen von Geschlecht, häuslichem Milieu, individuellen Bestrebungen und künstlerischen Interessen so aufklären, dass sich bildungspolitische und vielleicht auch didaktische Folgerungen daraus ziehen lassen.

Geschlechtsspezifische Ausprägung von Kulturinteressen: Problem und Relevanz

Seit einigen Jahren rücken Interessen- und Schulleistungsdifferenzen zwischen Jungen und Mädchen verstärkt in den Blick auch der Forschung. So ist einer neuen OECD-Studie zufolge im Schnitt aller PISA-Kompetenzen (Mathematik, Naturwissenschaften, Lesekompetenz) in fast allen OECD-Staaten der Anteil der besonders leistungsschwachen Jugendlichen unter Jungen wesentlich größer als unter Mädchen. Den Befund, dass in vielen Staaten die Jungen im Schnitt in der Mathematik bessere Leistungen erzielten, die Mädchen aber in den sprachbezogenen Fächern, führen die Autorinnen und Autoren auf (ebenfalls erfragte) „geprägte Verhaltensmuster“ zurück (OECD 2015). Ähnliche Befunde für Deutschland werden auch in einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung herausgegebenen Bericht geschildert (Budde 2008). Diese Studie betont ebenso die Wichtigkeit des „Selbstkonzeptes“ beziehungsweise der leistungs- und interessenbezogenen Selbsteinstufung für das tatsächliche Leistungsverhalten.

Größeres Interesse an künstlerischen Fächern bei den Mädchen

Auch in der Studie Jugend/Kunst/Erfahrung zeigten sich deutliche geschlechterbezogene Unterschiede im Bereich der kulturellen Interessen: So bekundeten beispielsweise 69 Prozent der Mädchen gegenüber 48 Prozent der Jungen, dass sie ein kulturelles Grundwissen für wichtig erachten. 67 Prozent der Jungen berichteten, sich sehr für Computerspiele zu interessieren, während dies nur von 14 Prozent der Mädchen bekundet wurde. Auch das Interesse für Technik war bei den Jungen dieser Altersgruppe wesentlich stärker ausgeprägt als bei Mädchen (44 und 7 Prozent). Als „typische Mädcheninteressen“ waren dagegen unter anderem die Mode (72 vs. 24 Prozent), das Kochen (30 vs. 10 Prozent) oder das Lesen von Romanen (29 vs. 6 Prozent) zu konstatieren. Auffällig ist ferner das ausgeprägtere Interesse in der Gruppe der Mädchen für Musical, Theater und Malerei (22, 18 und 17 Prozent vs. 5, 8 und 7 Prozent bei den Jungen).

Bemerkenswert scheint ebenso dieser Befund zu sein: Aus einer vorgelegten Liste verschiedener Schulfächer sollten die Befragten ihre Lieblingsfächer benennen. Hier ist nicht nur die entsprechende Rangliste interessant, sondern auch der Bezug auf Geschlecht, Schulform, Schulbildung sowie Kulturinteresse der Eltern. Der Sport führt die Rangliste als beliebtestes Schulfach an – bezieht man dieses Gesamtresultat jedoch auf die Geschlechter, so gilt die Spitzenposition nur für die Jungen, während bei den Mädchen neben Sport auch Fremdsprachen und Deutsch auf den ersten Rängen zu finden sind. Die Schulbildung der Eltern scheint hingegen keine bedeutsame Beziehung zu den Sportinteressen aufzuweisen (auch nicht der Migrationshintergrund der Schülerinnen und Schüler). Das ist ganz anders bei den eindeutig künstlerischen Fächern Kunst und Musik: Sie rangieren bei den Jungen mit rund 19 beziehungsweise 22 Prozent eher im mittleren Rangbereich, während sie von Mädchen ungefähr doppelt so häufig genannt werden. Betrachtet man ferner die Fächer Arbeitslehre und Technik, ist der geschlechterbezogene Unterschied noch deutlicher: Die Mädchen positionieren diese Fächer auf den untersten Rangplätzen der Beliebtheitsskala, bei den Jungen sind sie eher im oberen Mittelbereich angesiedelt. Wenn die eingangs referierte Vermutung in den Berichten der OECD und des BMBF richtig ist, dass die Interessen und Selbstbilder auch wesentliche Faktoren bei der Entstehung von Leistungsbereitschaften sind, ist eine genauere Auseinandersetzung mit diesen Unterschieden sinnvoll. Zum einen muss dabei die bisherige Forschungsliteratur gesichtet und ausgewertet werden. Zum anderen ist es – und da gibt es eine deutliche Differenz zu den OECD-PISA-Studien mit ihrer systematischen Ausblendung der künstlerischen Fächer – sehr wichtig, den substantiellen Zusammenhang zwischen künstlerischen Interessen und der Entstehung einer allgemeinen Bildungsaspiration genauer in den Blick zu nehmen. Denn es leuchtet zwar ein, dass in der OECD-Studie eine intensive frühe Leseförderung der Jungen gefordert wird, eher naiv mutet aber der Vorschlag an, die „digitale Leserkompetenz“ von Jungen durch Computerspiele zu steigern – hier wäre eine genauere Phänomenologie der komplexen „Lernerfahrungen“ erforderlich, die bei solchen Spielen gemacht und unter Umständen auch nicht gemacht werden können – man denke an die beim Lesen von literarischen Texten immer geforderte Imaginationskraft. (Ausführlich dazu: Rittelmeyer 2005). Im erwähnten BMBF-Bericht (Budde 2008) wird auf die „Korrelation zwischen übermäßigem Medienkonsum und schlechten Schulleistungen“ hingewiesen. Zur begrifflichen Problematik etwa der Unterscheidung von ‚positivem‘ und ‚negativem‘ Gebrauch von Computerspielen siehe auch Rittelmeyer 2010:97ff.

Geschlechtsspezifische Interessensdifferenzen stellen natürlich nicht per se ein Problem dar – erst ihre beispielsweise die Selbstwahrnehmungen, die Schulleistungen oder die Lebensoptionen Heranwachsender kanalisierende Auswirkung muss Anlass für eine kritische bildungswissenschaftliche Diskussion sein. Nur einige Gesichtspunkte sollen hier erwähnt werden, die meines Erachtens in einer solchen Diskussion Beachtung verdienen. Man kann beispielsweise geschlechtsspezifische Leistungsunterschiede im Fach Mathematik auf verschiedenartige, handlungsleitende Selbstbilder zurückführen, aber auch die Frage in den Blick nehmen, ob in diesem Fach hierzulande nicht eine didaktische Kultur vorherrscht, die solche Unterschiede begünstigt.

Diese Frage ist vor einigen Jahrzehnten schon diskutiert worden, als man sogar an die partielle Aufhebung der Koedukation wegen derartiger Interessen- und auch Lernunterschiede insbesondere in den naturwissenschaftlichen Fächern dachte – während gerade die sogenannte Lehrkunst-Diskussion in jener Zeit der 1970er und 1980er Jahre hervorhob, dass es möglicherweise in Gestalt eines phänomenologisch und auch künstlerisch orientierten naturwissenschaftlichen Unterrichts eine Möglichkeit geben könnte, in beiden Gruppen gleichermaßen Aufmerksamkeit und Interesse zu wecken (z.B. Berg/Schulze 1995; Bockemühl 1997; Buck/Kranich 1995; Rumpf 2004). Die Gründe für solche Differenzen bei den Fächerplatzierungen in der Studie Jugend/Kunst/Erfahrung müssen allerdings noch genauer empirisch aufgeklärt werden; aber die Frage nach einer fächerübergreifend didaktisch und – siehe die Hinweise zur Bildungsaspiration – künstlerisch akzentuierten neuen Schulkultur gibt wichtige Anregungen auch für die Profilklärung der seit einigen Jahren diskutierten „Kulturschule“ (vgl. dazu die Evaluationsstudie von Ackermann/Retzar/Mützlitz u.a. 2015; ferner zum Begriff „Kulturschule“ auch Fuchs 2013:257ff. und ders. 2012; Braun/Fuchs/Kelb 2010).

Ein anderer, für diese Diskussion wichtiger Aspekt kann am Beispiel der musikalischen Bildung erläutert werden. Einige mögliche Ursachen für die verbreitete Ablehnung des schulischen Musikunterrichts insbesondere durch Jungen sind inzwischen durch Image-Studien der Kasseler Musikwissenschaftlerin Frauke Heß aufgedeckt worden (Heß 2013a; 2013b). Im Rahmen ihres Forschungsprojektes „Musikunterricht aus Schülersicht“ (MASS 2011) wurden 1.024 Achtklässler beiderlei Geschlechts aus 19 hessischen Schulen aller Typen nach ihren Schulfach- und speziell Musikvorlieben befragt. Ein zentrales Ergebnis der Studie bestand darin, dass 53 Prozent der befragten Jungen und Mädchen Musik für ein typisches Mädchenfach halten (41 Prozent antworteten auf diese Frage mit „weder/noch“), bei der bildenden Kunst waren sogar 79 Prozent der Meinung, dass es dabei um ein typisches Mädchenfach gehe. Als typische Jungenfächer galten dagegen Sport und Physik (71 Prozent bzw. 61 Prozent der Nennungen). Ein Ranking der Fächer, die aus Sicht der Befragten besonders wichtig sind, zeigte Sport, Mathematik und Englisch auf den ersten drei Plätzen (28, 19 und 16 Prozent), während die Kunst mit 8 Prozent auf Platz 4 und die Musik mit 6 Prozent auf Platz 6 landeten. Die letzten Plätze nahmen Religion, Philosophie und Informatik mit jeweils 0,3 Prozent und weniger ein.

Hier soll nicht auf die differenzierten Überlegungen der Verfasserin zu den möglichen Gründen und auch den soziokulturellen Voraussetzungen dieser Resultate eingegangen werden, die sich zuvor auch schon in anderen Untersuchungen gezeigt hatten (Kessels/Hannover 2006:350ff.; Haag/Götz 2012:32ff.).

Exemplarisch sei vielmehr auf solche Imagestudien hingewiesen, weil sie auch für die Frage nach dem Erleben und den damit zusammenhängenden möglichen Wirkungen künstlerischer Tätigkeiten relevant sein könnten. Frauke Heß stellt die Frage, ob der Musikunterricht diesen Daten zufolge unter Umständen die Bedürfnisse und Erwartungen vieler Jungen aus den Augen verloren hat. „Dies wäre besonders fatal, da unser Fach gerade Jungen, die stereotypen und einengenden Männlichkeitsidealen anhängen, Angebote zur Erweiterung ihre Ausdrucks- und Erlebnismöglichkeiten machen könnte“ (Heß 2013:56).

Man kann in diesem Zusammenhang an eine Bemerkung des Sängers Thomas Quasthoff erinnern, die vielleicht eine wichtige Facette der konstatierten Desinteressen an schulischem Musikunterricht insbesondere bei Jungen betrifft: Er kritisierte das Schwinden musikalischer Bildung in unseren Erziehungsinstitutionen und führt dies unter anderem zurück auf die „Angst sehr, sehr vieler Menschen, Gefühle zu zeigen. Wer singt, öffnet sein Herz. Aber überlegen Sie mal: Was ist heute das heißeste Wort unter jungen Leuten? Cool – ein furchtbares Wort. Kälte, Abstand, Unbeteiligtsein als Lebensprinzip.“ Die Nachfrage, ob er bei jungen Leuten auch als Gesangslehrer solche Blockaden erlebe, beantwortete der Sänger mit der Feststellung: „Und ob! Es wird, scheint mir, immer schwerer, die Panzerung aufzubrechen, unter der sich viele junge Lernende bedeckt halten. Ich weiß, wovon ich rede, weil ich in meinen Konzerten an die Grenzen der Emotionalität gehe.“ (DER SPIEGEL 13/2005:174f.; vgl. dazu auch: Neumann-Braun/Richard 2005). Hier wäre allerdings zu prüfen, ob und gegebenenfalls in welcher neuen Variante diese Behauptung mit Blick auf Fernsehsendungen wie „Deutschland sucht den Superstar“ noch aufrechterhalten werden kann.

Aufschlussreich im Zusammenhang der Studie Jugend/Kunst/Erfahrung sind freie Antworten der an Kultur eher desinteressierten Schülerinnen und Schüler, die nach Gründen dafür gefragt wurden: Fast 50 Prozent der 133 nach eigenem Bekunden eher desinteressierten Jugendlichen nannten als Gründe, dass ihnen Angebote kultureller Aktivitäten zu langweilig, nicht spannend beziehungsweise nicht interessant genug erscheinen. Es sind wiederum häufiger Jungen als Mädchen, die dieses Urteil abgeben. Hier lassen sich interessante Forschungsfragen wie die anschließen, ob die kommerziell motivierte Kulturindustrie mit ihren Tendenzen zu eher suggestiven, geistig nicht unbedingt sehr anspruchsvollen Angeboten mindestens für einige der Jugendlichen eine der Voraussetzungen dieses negativen Kulturerlebens hervorbringt; andere Bedingungen könnten – wie die Daten nahelegen – in unterschiedlichen Bildungsmilieus und Erfahrungsmöglichkeiten im Elternhaus liegen.

Deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern auch beim Leseverhalten

Mit der eben zitierten Aussage Thomas Quasthoffs korrespondieren auch Studien zum Leseverhalten Jugendlicher: Insbesondere bei den bekanntermaßen weniger lesefreudigen Jungen im Schulalter scheinen Leseinteressen häufig durch Gleichaltrige beeinflusst zu werden; das Bücherlesen gilt vielen Jungen als „uncool“ (Müller-Walde 2005). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Start eines TV-Kanals speziell für Kinder unter dem Namen „RIC TV“, was für ‚richtig cool‘ steht (vgl. Feierabend/Klingler 2014:182ff.). Ein gutes „Leseklima“ in Familie und Schule scheint aber die wichtigste Bedingung dafür zu sein, dass eine „Lesekultur“ und damit „Lesekompetenz“ bei Kindern und Jugendlichen entstehen kann. Zu diesem förderlichen Umfeld gehören Gespräche über Bücher in der Familie (etwa über bestimmte Geschichten oder über das, was die Eltern gerade lesen), hilfreich kann – wie schon angedeutet – der Bücherbesitz im Elternhaus sein, der die Neugier von Kindern weckt, es gehört das Bild lesender Eltern und Klassenkameraden dazu – um hier nur einige Beispiele zu nennen. Umso erfreulicher ist es vor diesem Hintergrund, wenn eine Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler aus der Studie Jugend/Kunst/Erfahrung Interessen für anspruchsvolle Literatur im Deutschunterricht bekundet. Bei der Wahl der Lesevorlieben aus einer Liste wird hingegen deutlich: Fantasy-Romane und Krimis beziehungsweise Detektivgeschichten stehen mit 36 Prozent und 33 Prozent an der Spitze, gefolgt von Comics und Mangas (26 Prozent). „Anspruchsvolle Romane“, Biografien und Gedichte werden von rund 12 Prozent, 11 Prozent respektive 6 Prozent der Befragten genannt. Auch hier zeigen sich wieder geschlechtsspezifische Unterschiede: In der Studie Jugend/Kunst/ Erfahrung wird das Lesen anspruchsvoller Romane von 6 Prozent der Jungen und von 19 Prozent der Mädchen angegeben, Bücher über die Erlebnisse von Jugendlichen werden von 14 Prozent der Jungen und von 38 Prozent der Mädchen angegeben, Comics werden von 41 Prozent der Jungen und 11 Prozent der Mädchen als besondere literarische Interessen angegeben.

Empirische Erhebungen wie die JIM- und KIM-Studien zeigen schon seit Jahren, dass Mädchen nicht nur lesefreudiger sind, sondern auch zu anspruchsvolleren Literaturgattungen neigen, wenngleich das natürlich nur Trends sind, die keineswegs die jeweiligen Gesamtgruppen betreffen (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2015a: ders. 2015b). Der neuesten KIM-Studie zufolge, die sich auf Kinder im Alter zwischen 6 und 13 Jahren bezieht, bekundeten 11 Prozent der Mädchen und 26 Prozent der Jungen, nie Bücher zu lesen. 51 Prozent der Mädchen und 28 Prozent der Jungen gaben an, täglich oder mehrmals die Woche Bücher zu lesen. Auf die Frage, wie gern die befragten Kinder Bücher lesen, antworteten 66 Prozent der Mädchen und 42 Prozent der Jungen, Bücher gern oder sehr gern zu lesen, im Trend setzt sich diese Antworttendenz über die Altersgruppen zum höheren Alter hin mit einer leicht ansteigenden und dann wieder geringfügig abfallenden Tendenz fort (ebd.:26f.). Das sagt für sich noch nicht viel aus über die biografische Bedeutung solcher Unterschiede, kann aber in einer hier nicht zu führenden Analyse der Funktion von Literatur für den Bildungsprozess Heranwachsender sehr wohl zu der begründeten Frage Anlass geben, ob sich darin eine Entwicklung andeutet, die man keineswegs einfach hinnehmen sollte.

Folgerungen

Welche Folgerungen sind aus der zum Teil geschlechterspezifischen Bewertung kultureller Aktivitäten zu ziehen? Auch hier ist zu beachten, dass dies nur statistische Trends sind und dass die gleichartigen Kulturpräferenzen beider Gruppen ebenso im Blick stehen – und aufgeklärt werden sollten. Einige Erklärungsansätze für die Differenzen wurden genannt – hier wäre aber eine systematische Sammlung und metaanalytische Auswertung bisheriger Forschungen wichtig, um darauf aufbauend die schon angedeuteten didaktischen Überlegungen begründeter ausarbeiten zu können. Möglicherweise ist in diesem Zusammenhang auch der von vielen Repräsentanten Kultureller Bildung eingeforderte Mentalitätswechsel erneut in Erinnerung zu rufen, der von einer Unterscheidung „harter“ (etwa naturwissenschaftlicher) und „weicher“ Fächer (etwa Kunst und Musik) weg zu einer wirklichen – nicht nur proklamierten – Gleichwertigkeit dieser Schulfächer übergeht (vgl. dazu auch: Rat für Kulturelle Bildung e.V./Sekretariat der Kultusministerkonferenz 2014:12).

Da offenbar künstlerische Interessen und Tätigkeiten nicht nur mit einer allgemeineren Bildungsorientierung korrelieren, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach diese auch mitprägen, ist es in praktischer Hinsicht wichtig, männliche Jugendliche auch im Hinblick auf kulturelle Erfahrungen nicht immer weiter ins Hintertreffen geraten zu lassen. Dabei sollte auch kulturkritisch nach Bedingungen dieser Geschlechterdifferenzen in der modernen Kulturindustrie (etwa die elektronischen Bildschirm-Medien betreffend) gefragt werden; es sollte untersucht werden, ob und gegebenenfalls wie diese Industrie die Bereitschaft zu einer anspruchsvollen Wahrnehmung künstlerischer Bildung untergräbt – und jenes Urteil vieler insbesondere männlicher Jugendlicher prädisponiert, dass die Kunst „langweilig“ ist. Denn die einleitend herausgearbeitete, empirisch triftige These einer konstitutiven Funktion der künstlerischen Fächer beim Herausbilden einer allgemeinen, auch für außerkünstlerische Fächer grundlegenden Bildungsaspiration lässt die begründete Vermutung zu, dass der Mangel an Kultureller Bildung mindestens für einen Teil der Heranwachsenden Bildungschancen beschneidet.

Verwendete Literatur

  • Ackermann, Heike./Retzar, Michael/Mützlitz, Sigrun u.a. (2015): KulturSchule. Kulturelle Bildung und Schulentwicklung. Wiesbaden: Springer VS.
  • Berg, Hans Christoph/Schulze, Theodor (Hrsg.) (1995): Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik. Neuwied: Luchterhand.
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Anmerkungen

Jugend/Kunst/Erfahrung. Horizont 2015 ist eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD), die auf der Initiative und Konzeption des Rates für Kulturelle Bildung basiert. Beauftragt und getragen wurde die Studie durch den Stiftungsverbund Rat für Kulturelle Bildung e. V. und gefördert durch die Stiftung Mercator.

Die Studie „Jugend/Kunst/Erfahrung. Horizont 2015“ ist zu finden auf der Homepage des Rates für Kulturelle Bildung unter „Publikationen“.
 

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Christian Rittelmeyer (2015): Anmerkungen zu forschungsbezogenen und bildungspolitischen Aspekten der Studie Jugend/Kunst/Erfahrung. Horizont 2015 >> Eine Position. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/anmerkungen-forschungsbezogenen-bildungspolitischen-aspekten-studie-jugend-kunst-erfahrung (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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Dieser Artikel wurde dauerhaft referenzier- und zitierbar gesichert unter https://doi.org/10.25529/92552.277.

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