Analog / Digital: Chancen des milieuübergreifenden Arbeitens
Abstract
Digitale Medien sind Bestandteil von Kultur. Sie werden vor allem von Kindern und Jugendlichen als essentieller Bestandteil des Alltags angesehen und genutzt. Als multimediale Allround-Maschine ist das Smartphone ständiger Begleiter im Lebensalltag. Die Möglichkeiten, jederzeit und allerorts über Wege zur Beschaffung von Informationen, Wissen, Kommunikation und Unterhaltung zu verfügen, könnten auch die Kulturelle Bildungsarbeit mit diversen Zielgruppen milieuübergreifend bereichern. Doch so einfach, wie es sich anhört, ist es leider nicht …
Lebenswelten sind Medienwelten
Anfang der 1990er Jahre untersuchten die Medienwissenschaftler Dieter Baacke, Uwe Sander und Ralf Vollbrecht die Lebens- und Freizeitwelten von Jugendlichen und postulierten: „Lebenswelten sind Medienwelten“ (Baacke/Sander/Vollbrecht 1990). Schon damals hatten so genannte „Neue Medien“ mit vor allem Fernseher, Musik, aber auch noch Buch einen hohen Stellenwert in der Freizeitgestaltung der Heranwachsenden. Neben der Nutzung im privaten Rahmen fungierten vor allem Discotheken und Kinos als Medienumgebungen. Untersucht wurden auch strukturelle Unterschiede in der Mediennutzung (z.B. städtischer versus ländlicher Raum), der Sozialisations- und Lerncharakter von Medien (z.B. Lesen als Grundfähigkeit oder Unterschiede in der Rezeption) sowie ihre Auswirkungen auf das soziale Miteinander.
Gut dreißig Jahre später sind die „Neuen Medien“ von „Digitalen Medien“ abgelöst worden: Videoclips, Filme oder Serien sind zu jeder Zeit über Videoplattformen im Internet und über Streaming-Dienste verfügbar, jeder beliebige Musik-Titel kann auf Video- und Musikplattformen oder mit Hilfe von Apps abgespielt werden, stationäre Computer sind durch den ständigen Hosentaschen-Begleiter Smartphone ersetzt worden und soziales Miteinander findet zusätzlich zu realem Austausch in den Sozialen Netzwerken statt. Aktuelle Erhebungen zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen (z.B. die Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest) erfassen aber auch, dass die Nutzung von Fernseher, das Hören von CDs, MP3-Dateien oder Radio sowie das Bücherlesen auch weiterhin in der täglichen Mediennutzung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine relativ große Rolle spielen. Sie werden häufig parallel zu anderen digitalen Medien genutzt und erweitern das tägliche Medienrepertoire und auch die Mediennutzungszeiten. Somit ist ihr Stellenwert im Lebensalltag noch weiter gestiegen und untermauert noch einmal die Feststellung von vor dreißig Jahren.
Ein Treiber dieser Veränderungen ist die Digitalisierung von Lebenswelten. Der andauernde Transformationsprozess zu einer digitalen Gesellschaft bringt einige Herausforderungen mit sich, die sowohl das Individuum wie auch das Zusammenleben in einer Gemeinschaft maßgeblich beeinflussen. Es ergeben sich beispielsweise Fragestellungen in Bezug auf Forschung, Bildung, Wirtschaft, Politik, Arbeitsleben, Freizeit oder Kultur. Und da die einzelnen Bereiche sich in einem komplizierten Wechselwirkungsgefüge einander bedingen und beeinflussen, kann eine solche systemische Veränderung nicht mehr solitär von einer Fachdisziplin betrachtet, sondern müsste in interdisziplinärem Verbund angegangen werden. Im Rahmen der Kulturellen Bildung eröffnet dies aber auch die Chance, die medialen Lebenswelten mit anderen Kulturtechniken zu verknüpfen und verlangt oder ermöglicht den Blick über den Tellerrand.
Alltag mit digitalen Medien
Mit den Begriffen „Digital Native“ und „Digital Immigrant“ beschrieb der Pädagoge und Manager Marc Prensky (Prensky 2001) die unterschiedlichen Rezeptionsweisen von digitalen Medien: Personen, die mit einer Technologie aufwachsen, nutzen sie wie selbstverständlich und adaptieren sie in ihren Alltag, wohingegen Personen, die ihre Nutzung erst mühsam erlernen müssen, sie nicht anwenden oder übernehmen. Ein „Digital Settler“ hat diese Herausforderung überwunden und wendet die Medien nach einer Lernphase an. Blickt man auf heutige Kinder und Jugendliche, haben wir es ohne Zweifel mit Digital Natives zu tun, die digitale Technik in ihren Lebensalltag integriert haben. Mehr noch: Die digitale Technologie ist für sie so selbstverständlich geworden, dass sie als post-digital-lebende Personen (Negroponte 1998) nicht mehr zwischen analog und digital oder real und virtuell unterscheiden. Das Internet ist ständig verfügbar, Informationen und Unterhaltungsformate können jederzeit und an jedem Ort abgerufen werden und digitale Kommunikation erweitert die direkten Austausch-Formate. Digitale Medien werden zu omnipräsenten Werkzeugen, die aus dem realen Alltag nicht mehr wegzudenken sind. Und wenn sie essentieller und selbstverständlicher Bestandteil des Lebens sind, kommt ihnen auch im Rahmen des Entwicklungsprozesses, des Erwachsenwerdens, der Sozialisation, in Lehr-Lern-Settings und auch in der Kulturellen Bildung eine zentrale Bedeutung zu.
Blickt man auf die typischen Entwicklungsaufgaben auf dem Weg vom Jugendalter zum Erwachsenen, wird deutlich, dass viele Bedürfnisse inzwischen von digitalen Medien gedeckt werden. Ein paar Beispiele: Die Erlebnisorientierung vollzieht sich über digitale Unterhaltungsformen wie YouTube, Streaming, Computer- und Videospiele oder Soziale Netzwerke, die Zugehörigkeit zu Peergroups erfolgt über Soziale Netzwerke und Online-Communities, bei der Identitätsentwicklung spielen Influencer*innen eine maßgebliche Rolle sowie das Agieren in virtuellen (Spiel-)Welten mit Hilfe eines digitalen Stellvertreters, des Avatars, das Streben nach Freiheit wird über erwachsenenfreie virtuelle Räume abgedeckt, Orientierung und Sicherheit bieten Communities, sexuelle Orientierung erfolgt über Internetseiten und Porno-Portale und der soziale Status wird über Plattformen, aber auch die Ausstattung mit digitalen Geräten hergestellt. Wenn Pädagogik und Kulturelle Bildung traditionell einen Lebensweltbezug herstellen, bedeutet dies, dass auch digitale Medien aufgegriffen werden müssen, um die Zielgruppe in ihrer Lebenswelt abzuholen und sie zur Auseinandersetzung mit bisher unbekannten kulturellen Themen und Techniken mitzunehmen beziehungsweise zu animieren.
Wenn Kinder und Jugendliche heute post-digital aufwachsen, könnte man davon ausgehen, dass sie über entsprechende Kompetenzen verfügen, mit den Medien auch „sinnvoll“ umgehen zu können. Dies ist aber nicht bei allen der Fall. Im Sinne der Definition von Medienkompetenz nach Dieter Baacke (Baacke 2001) wären das: Medienkunde (Technik verstehen und anwenden), Mediennutzung (Medien rezipieren und anwenden), Medienkritik (Medien einschätzen, Mediennutzung reflektieren, Medien ethisch bewerten) und Mediengestaltung (Medien verstehen, verändern und kreativ nutzen). Im Medienkompetenzrahmen NRW werden die Kompetenzen in die Bereiche Bedienen und Anwenden, Informieren und Recherchieren, Kommunizieren und Kooperieren, Produzieren und Präsentieren, Analysieren und Reflektieren sowie Problemlösen und Modellieren aufgeteilt. Je nachdem, wie Personen die Medien nutzen oder nutzen können, unterscheidet sich auch die Mediennutzung selbst sowie ihr Ergebnis. Festzustellen ist, dass Bevölkerungsgruppen mit einem hohen sozioökonomischen und/oder Bildungsstatus (Schulbildung, Abschluss und Beruf der Eltern, Medienausstattung im Haushalt, Vorbildfunktion der Eltern bei der eigenen Mediennutzung etc.) den Medien mehr Wissen entnehmen, als solche mit niedrigerem Status. Das findet sich aktuell beispielsweise im Umgang mit Fake-News und Verschwörungstheorien wieder oder schon bei der Filterung und Bewertung von Informationsquellen. Auch die Interaktion mit anderen Personen in Sozialen Netzwerken oder Communities unterscheidet sich, ebenso wie die Auswahl von (interaktiven) Unterhaltungsmedien oder Wissensquellen. Die Informationsdifferenzen werden zudem mit der Weiterentwicklung oder Veränderung von Medien größer, was letztlich eine mediale Klassengesellschaft bzw. eine digitale Kluft zur Folge hat. Es ist also nicht damit getan, flächendeckende Internetanschlüsse oder Geräte vorzuhalten, sondern vielmehr gezielt und am besten individuell Medien- und andere Kompetenzen zu fördern. Diese pädagogische Aufgabe ist im Grunde nichts neues und wird hier auf Medien ausgeweitet, wenn man beispielsweise auf die Bemühungen blickt, Kinder und Jugendliche in sozialen Brennpunkten oder Stadtteilen mit erhöhtem Erneuerungsbedarf in ihrer Entwicklung zu fördern.
Erreichung von Zielgruppen
Wenn viele Bedürfnisse von Heranwachsenden inzwischen über Digitale Medien abgedeckt werden und sie selbstverständlicher Bestandteil des post-digitalen Lebensalltags sind, bedeutet dies für die Bildungsarbeit, sie in Angeboten aufzugreifen, zu thematisieren oder als Ausgangsbasis für kulturelle Aktivitäten zu nutzen. Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage, ob herkömmliche und zumeist analoge Kommunikationswege zur Erreichung und Ansprache von Kindern und Jugendlichen, wie Aushänge, Flyer oder Plakate, noch die richtigen sind oder ob sie sich in den digitalen Raum verlagern müssten. Die pandemischen Einschränkungen während der Corona-Krise haben dazu geführt, dass vor-Ort-Begegnungen oder Präsenzveranstaltungen nicht mehr möglich waren und der Kontakt zu Zielgruppen plötzlich abriss. Schon in den Jahren zuvor wurde diskutiert, ob und wie die Kommunikation mit Jugendlichen über digitale Wege etabliert werden sollte. Keine einfache Entscheidung, denn oftmals nutzen Heranwachsende Medienangebote, die gesetzlichen Vorgaben zuwider laufen. Allen voran die Sozialen Netzwerke, wie Instagram, What’s-App oder TikTok, hinter denen global agierende Firmen stehen, die zur Kostendeckung der Angebote Daten der Nutzer*innen sammeln und algorithmisch in Form von Big-Data-Analytics auswerten. Wozu diese Daten tatsächlich verwendet und monetarisiert werden, ist Firmengeheimnis. Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) schreibt vor, dass solche Dienste, die nicht ausschließlich über Computernetzwerke und Serverstrukturen in der EU laufen und/oder bei denen unklar bleibt, wie Daten analysiert und weiterverarbeitet werden, für die pädagogische und Bildungsarbeit nicht verwendet werden dürfen.
Damit ergeben sich gleich zwei Herausforderung, denn zum Einen verwenden Jugendliche eben solche Angebote und Dienstleistungen und sind eben hierüber erreichbar und zum Anderen existieren kaum alternative Dienste, die rechtskonform verwendet werden könnten und wenn doch, müsste die Zielgruppe auch dorthin wechseln oder sie zusätzlich installieren, sofern sie in ihren Augen überhaupt einen Mehrwert bieten. Praktisch bedeutet dies, dass die Kommunikation über digitale Medien an der Zielgruppe vorbei läuft und die Prämisse, Zielgruppe in ihrer Lebenswelt abzuholen, nicht funktionieren kann. Dementsprechend entbrannte unter Medienpädagog*innen eine kontroverse Diskussion, ob in der pandemischen Lage nicht Ausnahmeregeln gelten müssten und zumindest für einen gewissen Zeitraum auch Plattformen verwendet werden könnten, die nicht DSGVO-konform sind. Genauer betrachtet stellte sich diese Frage aber auch schon vor der Pandemie. Für die Chat- und Kommunikationsplattform Discord haben die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW und die Fachstelle für Jugendmedienkultur NRW eine Handreichung für die Jugendarbeit herausgegeben, die die Chancen und Risiken beschreibt und Handlungsempfehlungen für den Einsatz gibt – technisch, methodisch und rechtlich (Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW 2020).
Ergebnis der Kontroverse ist, dass Kinder-, Jugend- und Kultureinrichtungen je nach Träger und Fördergrundlagen, aber auch länderspezifischen Unterschieden in den Gesetzeslagen, eigene Entscheidungen treffen und es damit kein einheitliches Vorgehen gibt. Somit reichte die Palette während der Lockdown-Zeiten von Schließung der Einrichtungen ohne Angebote bis hin zu Beispielen sämtlicher jugendlicher Kommunikationswege. Im Beispiel der Jugendeinrichtung Life House eines freien Trägers in Stemwede wurden in der Tat schon wenige Tage nach Beginn des Lockdowns sämtliche Plattformen für Unterhaltungs- und Informationsformate sowie Kommunikation und Diskussion genutzt (Instagram, Twitch, Discord, What’s App, YouTube, Podcast, Playstation-Netzwerk (PSN), Tellonym, Snapchat, Facebook). Mit großem Erfolg: Im Schnitt nahmen je rund 100-150 Teilnehmer*innen die digitalen Streamingformate an und die Abonnent*innen-Anzahl auf Instagram ist auf über 1500 gestiegen. Die Kölner Jugendzentren JugZ gGmbH mit 27 Häusern sowie weitere Einrichtungen der AWO starteten ebenfalls kurz nach dem Lockdown mit Streaming-Angeboten auf Twitch und einem ergänzenden Discord-Channel sowie What’s-App-Gruppen für Austausch und Kommunikation; Instagram, YouTube und Twitter wurden auch vorher bereits genutzt. Die Erfahrungen der „digitalen Jugendarbeit“ haben die Kölner Einrichtungen dazu bewogen, eine zentrale Jugendeinrichtung zu einem „Jugendzentrum digital“ umzubauen und ab November 2021 Medienangebote für alle Häuser des Trägers dort, auch mit Blick auf zentrale Technikinvestitionen, zu bündeln. Das inzwischen etablierte digitale Angebot soll zukünftig die Arbeit vor Ort im Sinne einer hybriden Herangehensweise ergänzen.
Ein weiterer Aspekt bei der Plattformfrage bzw. den Vermittlungswegen ergibt sich durch die rasant voranschreitende Weiterentwicklung digitaler Angebote und den Vorlieben der Zielgruppe: Neues wird früh ausprobiert und Migrationsbewegungen von einem zu einem anderen Dienst sind üblich. Facebook wurde beispielsweise unattraktiv für Jugendliche, als auch Erwachsene und im schlimmsten Fall die eigenen Eltern oder Lehrer*innen Accounts eröffneten und es fand ein Wechsel zu Instagram statt. Um bei den Digital Natives zu bleiben, sind sie die „Early Adopter“ neuer Technologien, wobei die Bildung und Pädagogik hinterherhinkt. Man muss allerdings auch nicht Fehler aus der Vergangenheit wiederholen und blind voranschreiten: Als 2003 „Second Life“ als virtuelle 3D-Umgebung eröffnete (bis heute mit relativ großer Fangemeinde in Betrieb), in der soziales Miteinander, Kommunikation, Kreativität, aber auch Kommerz im Zentrum steht und eine eigene Währung (Linden-Dollar, börsennotiert) eingerichtet wurde, fühlte sich die (Medien)Pädagogik genötigt, virtuelle Jugendzentren (als Pixelgebäude) in der 3D-Welt zu errichten und so Angebote für die jugendliche Zielgruppe im virtuellen Raum vorzuhalten. Nach einem anfänglichen Hype wurde die virtuelle Welt für Jugendliche aber völlig uninteressant. Auch wenn sie grafisch an Computer- und Videospiele erinnert, sind kaum Spielelemente enthalten und sie wurden damit unattraktiv. So verwaisten die mit viel Mühe und Arbeitsaufwand errichteten virtuellen Jugendzentren schon nach kurzer Zeit. Vielleicht war aber auch einfach damals die Zeit für virtuelle 3D-Umgebungen noch nicht reif und das aktuell von Mark Zuckerberg angekündigte „Metaverse“ des in „Meta“ umbenannten „facebook“-Konzerns, das die Zukunft des Internets darstellen soll, bekommt mehr Zuspruch. Zumindest dürfte die Tatsache, dass hier VR-Brillen eine „echte“ 360-Grad-3D-Umgebung simulieren, zum Experimentieren einladen. Dies ist bei Second-Life bis heute nicht möglich und der vermeintliche Pionier wird ob der Marktmacht von Meta mit eigener Hard- und Software kaum eine Chance haben.
Daraus ergibt sich eine weitere Herausforderung, denn global agierende IT-Konzerne, wie die „Big Five“ (Alphabet (google), Amazon, Apple, Meta (facebook), Microsoft), die sich quasi den IT-Markt untereinander aufteilen, nehmen mit ihren Dienstleistungen auch Einfluss auf die Bildung. Wenn beispielsweise Microsoft die pandemischen Einschränkungen aktiv nutzt, um in Marketing-Ansprache mit Schulen und Bildungseinrichtungen neue Kund*innen für Microsoft-Teams und somit Abonnement-pflichtige Dienste zu generieren, oder deutlich wird, dass die deutschen Verwaltungsstrukturen in hohem Maße vom IT-Konzern und seinen Produkten (Microsoft Office) abhängig sind, bleiben das Geschmäckle von Digitalem Kapitalismus (Niesyto: 2019) und die Frage nach der Datensouveränität der Bundesrepublik. Ähnlich verhält es sich mit den weltweiten Serverstrukturen der „Amazon Web Services“ (AWS), über die ein Großteil des Internet-Datenverkehrs läuft und die den eigentlichen Umsatz des Konzerns im Gegensatz zur Verkaufsplattform ausmachen. Hier wird deutlich, wie groß der Einfluss der Tech-Unternehmen inzwischen ist und eine Gesellschaft muss sich die Frage stellen, ob sie diesen Einfluss tolerieren will und/oder welche Optionen und Alternativen es gibt, dagegen zu steuern. Und das nicht nur in Deutschland, wie der Vorwurf von Amnesty International zur Verletzung der Menschenrechte durch google und facebook (Amnesty International 2019) oder die Initiative Contract for the Web von Sir Tim Berners-Lee, quasi dem Begründer des Internets, wie wir es heute kennen, deutlich macht und die die Umsetzung der informationellen Selbstbestimmung, wie z.B. das Recht auf Privatsphäre, im digitalen Raum fordert. Das Bundeskabinett hat sich schon 2018 dazu verpflichtet, den vorgeschlagenen Vertrag einzuhalten. Umso verwunderlicher erscheint es, dass Politik in 2021 ausgerechnet mit Microsoft das Gespräch sucht, um die Digitalisierung im Bildungssektor voranzutreiben, anstatt offene Server- und Software-Architekturen und Daten-sichere Lern- oder Bildungsplattformen in Deutschland oder der Europäischen Union zu fördern und so die Abhängigkeit von Großkonzernen zu minimieren. Die Tatsache, dass Meinungen und Vorgehensweisen in den Bundesländern zudem unterschiedlich ausfallen, macht es nicht einfacher.
Es ist also bei weitem nicht damit getan, digitale Infrastruktur (flächendeckende Breitbandversorgung, Geräte-Ausstattung etc.) vorzuhalten. Vielmehr bedarf es grundsätzlicher politischer, kultureller und gesellschaftlicher Entscheidungen, durchdachter Medienkonzepte, Fort- und Weiterbildung von Fachkräften sowie didaktischer und methodischer Vermittlungskonzepte für Bildungsinhalte sowie Förderung der Medienkompetenz.
Kulturelle Medienbildung
Was auf der einen Seite Herausforderungen mit sich bringt, stellt auf der anderen Seite eine Chance dar. Global agierende Konzerne sorgen dafür, dass Konsument*innen weltweit die gleichen Plattformen und Dienstleistungen nutzen. Facebook oder Instagram von Meta stammen aus den USA, TikTok aus China, genutzt werden sie weltweit. Ähnlich verhält es sich mit Computer- und Videospielen. So ist es möglich, Projekte umzusetzen, die Kulturraum-übergreifend ausgerichtet sind und Menschen bei der Nutzung einer gemeinsamen Kulturtechnik zusammenbringen. Wenn beispielsweise Jugendliche mit Fluchterfahrung aus anderen Ländern, Kultur- und Sprachräumen ebenso gerne „Minecraft“ oder andere Games spielen, wie die hiesigen Altersgenoss*innen, können sie als Brücken für Kommunikation und kulturellen Austausch eingesetzt werden. Auch wäre es möglich, digitale Kulturräume am Beispiel von Games aufzubrechen: Stefan Werning (Werning 2014) skizziert in seinem Beitrag „Game Design als Form kulturellen Ausdrucks“, dass Game-Designer*innen selbstverständlich ihren kulturellen Background als Basis verwenden. Wenn diese Games länderspezifische historische Entwicklungen vermitteln, die z.B. in westlichen Titeln nicht oder nur unzulänglich dargestellt werden, oder wenn Haltungen transportiert werden, die einen direkten Bezug zum jeweiligen Kulturraum oder zur Autobiographie haben, können diese Unterschiede mit Spieler*innen thematisiert und diskutiert werden. Das Bedürfnis nach ökonomischer Partizipation findet sich auch in Computerspielproduktionen wieder, was letztlich auch zu einem „differenzierteren Blick auf die zunehmende Transkulturalität aktueller Spieleindustrien und -kulturen“ beitragen kann.
Die Tatsache, dass Medienangebote global konsumiert werden und immer auch abhängig vom jeweiligen kulturellen Hintergrund sind, eröffnet also durchaus Chancen für das milieübergreifende Arbeiten. Kulturelle Medienbildung kann dabei aber nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss Medien in den Kontext von Kultur und Bildung stellen und Wechselwirkungsprozesse berücksichtigen. „Je nach speziellem Thema oder Methode erscheint es darüber hinaus sinnvoll weitere Disziplinen zu beachten und einzubeziehen. (…) Dabei zeigt sich, dass auch die Medienpädagogik als zugleich allgemeine und spezielle Disziplin wiederum Impulse für die Kulturelle Bildung aufzeigt und bearbeitet. (…) Kulturelle Bildung und alle ihre Facetten können als eine Art Brennpunkt verstanden werden, von dem aus vielzählige Aktivitäten und Schnittstellen möglich sind.“ (Geisler/Pohlmann 2021) Die interdisziplinäre Vernetzung und Fachdisziplin-übergreifende Bearbeitung von Themen und Inhalten ist in Anbetracht der Komplexität des digitalen Transformationsprozesses und seiner Wirkweisen auf die Gesellschaft und das Individuum unumgänglich. Zudem bedeutet es für die Persönlichkeitsentwicklung mit Kunst und Kultur Horizonte zu erweitern, eigene Meinungsbildung zu fördern, Haltungen zu entwickeln und damit zu „selbst- und verantwortungsvollen Individuen zu werden, die ihre Stärken und Fähigkeiten kennen“ (BKJ 2019).
In der kulturellen und pädagogischen Arbeit sind interdisziplinäre Herangehensweisen oder Bezugnahmen mitunter recht einfach umsetzen. Zur Spielfigur „Mario“ könnten in einem Projekt beispielsweise neue Geschichten ersonnen werden, die den Games-Protagonisten mit seinen digitalen Freund*innen und Widersacher*innen in ein neues Setting setzen: „Was macht Mario eigentlich in seiner Freizeit, wenn niemand mit ihm spielt?“. Methodisch folgt analoges Storytelling im Sinne einer literaturpädagogischen Betrachtung oder die künstlerische Umsetzung in Form von Fotos, Gemälden oder medialen Inszenierungen und das Videospiel ist dabei lediglich der digitale Ausgangspunkt, um Zielgruppen in ihrer medialen Lebenswelt abzuholen (vgl. Pohlmann/Waschk 2015). Ein anderer Ansatz könnte sein, Games in reale Spielformen umzuwandeln, wie die „Angry Birds“ mit Hilfe werkpädagogischer Methoden auf der Wiese umzusetzen oder Jump-and-Run-Spiele in einen Sport- und Bewegungsparcours in die Turnhalle zu verlagern, was als methodischer und medienpädagogischer Ansatz schon 1992 dokumentiert wurde (Kempf/Pohlmann 2020). Kinder und Jugendliche oder Gamer*innen sind dabei die eigentlichen Expert*innen für das digitale Medium und Pädagog*innen und Fachkräften wird vor allem die Aufgabe zuteil, einen Kreativitäts- oder Möglichkeitenraum zu schaffen, in dem die kulturelle Auseinandersetzung stattfinden kann. So verändert sich die Vermittlungsrolle der Pädagog*innen in die von Coaches, Navigator*innen und Lehrbegleiter*innen (vgl. Röll 2003). Einen solchen Ansatz verfolgt das Projekt Gamescamp, das Jugendlichen im Barcamp-Format ein Forum zur Verfügung stellt, über Games, ihre Entwicklung und Programmierung bis hin zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen rings um Computer- und Videospiele, wie beispielsweise Gefährdungspotential virtueller Gewalt, Interaktionsrisiken oder Suchtproblematik ins Gespräch zu kommen. Das Gamescamp wird von einem Netzwerk bundesweit tätiger medienpädagogischer Institutionen und mit Förderung der Bundeszentrale für politische Bildung umgesetzt und wurde 2013 von der Gesellschaft für Medien- und Kommunikationskultur (GMK) mit dem Dieter-Baacke-Preis für innovative Medienprojekte ausgezeichnet.
Eine weitere Möglichkeit Digitale Medien in Kulturprojekten aufzugreifen, ist die Nutzung allgegenwärtiger digitaler Techniken im Kontext kultureller Themen, wie beispielsweise durch den kreativen Einsatz von Fotos (z.B. Deutscher Jugendfotopreis) oder Videos (z.B. Deutscher Jugendfilmpreis), in Ausstellungen, über multimediale Produkte (z.B. Deutscher Multimediapreis) bis hin zu medialen Inszenierungen auf der Bühne (z.B. das Projekt #viele Leben). Hier sind Medien Mittel zum Zweck. Sie können aber auch digitale Themen aufgreifen und Kulturtechniken zur kreativen Bearbeitung nutzen, wie beispielsweise in einem Projekt der SK-Stiftung Jugend und Medien in Köln, in dem sich Acht-Klässler*innen über drei Monate intensiv mit BigData auseinandergesetzt haben, um sich neue und spielerische Vermittlungsmethoden für Kinder und Jugendliche auszudenken. Hier entstanden beispielsweise interaktive Textadventures mit dem kostenlosen Hypertext-Editor Twine oder Stop-Motion-Filme, die Gleichaltrige zum Thema sensibilisieren sollen.
Mit etwas Nachdenken und Ideenreichtum können und müssen im Sinne einer lebensweltorientierten Herangehensweise digitale Medien eine zentrale Rolle in Kulturprojekten und einer interdisziplinär ausgerichteten Kulturellen Bildung einnehmen, ganz gleich, ob sie dabei Gegenstand der Betrachtung oder Mittel im kreativ-künstlerischen Prozess sind. Auf der anderen Seite bestehen aber weiterhin Herausforderungen, die eine milieuübergreifende Arbeitsform und Förderung Einzelner behindern. Allen voran die Ungleichheit in der Nutzung von Medien mit der nötigen Medienkompetenz, die gesellschaftlichen Herausforderungen, die infrastrukturellen Gegebenheiten in Bezug zur technischen Ausstattung und Anbindung sowie didaktische und methodische Fragestellungen. Da digitale Medien aber per se in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen eine zentrale Funktion im Entwicklungsprozess einnehmen, sind sie auch als essentieller Bestandteil von (Jugend)Kultur und somit auch als Gegenstand Kultureller Bildung zu begreifen und zu nutzen.