Alt. Intelligenzgemindert. Straffällig. Vergessen? Kulturgeragogik mit männlichen Patienten im Maßregelvollzug
Ein Pilotprojekt
Abstract
Im Mittelpunkt dieses Artikels steht ein kulturgeragogisches Pilotprojekt für ältere Männer mit Intelligenzminderung, die im Maßregelvollzug untergebracht sind. Ziel war, mittels künstlerischer Techniken und Methoden positive Auswirkungen auf das Wohlbefinden sowie auf das Erleben und Verhalten dieser Zielgruppe zu erreichen. Das Kunstprojekt basierte auf sechs Modulen und beinhaltete verschiedene künstlerische Anregungen sowie ein Informationsgespräch, die Durchführung eines Fragebogens, ein mündliches Abschlussinterview sowie eine Präsentation der Werke innerhalb der Einrichtung.
Grundgedanken und Fragestellungen zum Projekt
Es gibt viele emotionale Ressentiments gegenüber straffällig gewordenen Menschen, die im Maßregelvollzug untergebracht sind. Die Stigmatisierung dieser Personengruppe scheint besonders hoch. „Auf der Beliebtheitsskala möglicher Einrichtungen, die eine Stadt beherbergen möchte, rangieren forensische Kliniken auf dem Niveau von Mülldeponien und veralteten Braunkohlekraftwerken“, schreibt Klaus Baumeister (Baumeister 2019:81) beispielsweise über den Bau der Maßregelvollzugsklinik in Münster Amelsbüren.
Selbst in Fachkreisen herrscht - trotz neuer Erkenntnisse - immer noch die weit verbreitete Annahme vor, dass diese Klientel mittels psychotherapeutischer Behandlungsmethoden nicht zu erreichen sei und eine Therapie keinen Erfolg habe (vgl. Neuschmelting/Seifert 2022:251 und Sappok et al. 2010:827). Unabhängig vom Thema Maßregelvollzug ist zudem die Anzahl an Projekten gering, die sich gezielt mit der Schnittstelle zwischen Alter und Intelligenzminderung auseinandersetzen (vgl. Pohlmann 2011:162).
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) fordert, dass Förderkonzepte für Patient*innen mit geistiger Behinderung im Maßregelvollzug dringend „zielgruppenspezifisch an aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse angepasst werden“ (DGPPN 2019:3) müssen. Und Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention verweist darauf, dass Menschen mit Behinderungen nicht nur die gleichen Gesundheitsleistungen wie andere Menschen erhalten sollen, sondern darüber hinaus, dass ihnen Angebote gemacht werden, durch die „auch bei Kindern und älteren Menschen, weitere Behinderungen möglichst gering gehalten oder vermieden werden sollen“ (Behindertenrechtskonvention 2013).
Aktuell finden sich keine Aufsätze oder empirische Studien, die der Frage nachgehen, wie ältere Menschen mit Intelligenzminderung in der forensischen Psychiatrie mittels Kunst und Kultur angemessen unterstützt, behandelt oder beschäftigt werden. Die heuristische Suche erfolgte mit den Begriffen ‚Kunst‘, ‚Kunsttherapie‘, ‚Forensik‘, ‚Geragogik‘ und ‚Intelligenzminderung‘. Es wurden die Datenbanken SSOAR, Statista, BASE, Gesis und Google Scholar durchsucht und keine Anhaltspunkte zum Thema gefunden.
Wie lässt sich Kulturarbeit mit älteren Menschen mit Intelligenzminderung im Maßregelvollzug realisieren? Kann insbesondere die Kunst in diesem speziellen Setting dazu beitragen, ein Alter(n) in Würde und Selbstbestimmung zu ermöglichen und vielleicht sogar Lernprozesse anzustoßen? Und wenn ja, welche Gelingensbedingungen sind notwendig und welche Methoden erweisen sich als gute Praxis?
In dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, erste Erfahrungen und Erkenntnisse zu diesem Themenkomplex zu gewinnen.
Theoretische Verortung
Bevor auf die Bedingungsanalyse und die didaktisch-methodischen Überlegungen ausführlicher eingegangen wird, sollen nachfolgend die Aspekte Alter und Teilhabe, Intelligenzminderung und Maßregelvollzug skizziert werden. Dies erscheint wesentlich, um die Ziele, Inhalte und den Aufbau des Pilotprojekts nachzuvollziehen.
Alter und Teilhabe
„Zu keinem Zeitpunkt erreichten so viele Menschen ein so hohes Alter wie heute“ (bmfsfj 2021:6), heißt es im Sechsten Altenbericht des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (bmfsfj). Anders als frühere Generationen sind ältere Menschen in Deutschland heute im Durchschnitt gesünder und gebildeter, und sie verfügen über größere finanzielle Möglichkeiten und mehr Freizeit. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass aufgrund des zunehmenden demografischen Wandels die Anzahl der pflegebedürftigen und chronisch kranken Menschen steigt (vgl. ebenda). In einer Gesellschaft des langen Lebens wird es daher immer wichtiger, das Alter und das Altern - neben medizinischen Aspekten - auch als vielschichtiges soziales, individuelles und kulturelles Phänomen zu verstehen. Lebensqualität bis ins hohe Alter zu gewährleisten und zu erhalten wird gesellschaftlich zunehmend bedeutsamer.
Teilhabe für alle! Dieser Ansatz ist in vielen politischen und kulturellen Bereichen zu einem Leitbegriff geworden. Er beinhaltet, dass jedem Menschen die gleichen Chancen auf Selbstverwirklichung zugestanden werden, er vollumfänglich in die Gesellschaft eingebunden wird und zudem vor willkürlicher Ungleichbehandlung zu schützen ist (vgl. Diehl 2017:9). Dennoch ist die vollständige Partizipation am gesellschaftlichen Leben längst nicht für alle selbstverständlich. Dies gilt u. a. für Menschen, die arm sind, psychisch und physisch eingeschränkt oder zuwanderungserfahren. Und es betrifft Personen, die aufgrund ihrer Geschlechteridentität oder klischeehafter Altersbilder benachteiligt werden.
Die Wissenschaftsdisziplin Geragogik hat den „Wunsch von Älteren nach Partizipation in ihr Konzept integriert“ (Schramek/Bubolz-Lutz 2016:162). Sie befasst sich theoretisch und praktisch mit den Themen Lernen und Bildung im Alter und begreift die Auseinandersetzung damit als gesellschaftlichen Entwicklungsauftrag. Sich im Alter weiterzubilden und Neues dazuzulernen ist damit nicht mehr nur die Aufgabe eines jeden Einzelnen, sondern verbindet damit auch die Pflicht der Gesellschaft, passende Angebote und Möglichkeiten für Teilhabe zu ermöglichen (vgl. Bubolz-Lutz, Engler et al 2022:16).
Mittel zu mehr Teilhabe und Partizipation bietet die Kulturgeragogik. Sie kombiniert Erkenntnisse aus drei Bereichen: der Kulturpädagogik, der Geragogik und der Gerontologie. Älterer Menschen haben andere Interessen und Bedürfnisse als jüngere. Daher orientieren sich die kulturellen Bildungsangebote der Kulturgeragogik in erster Linie an ihren Lebensläufen und Lebenswelten. Auch bringen ältere Menschen andere Lernvoraussetzungen mit, die hier methodisch und didaktisch Berücksichtigung finden (vgl. De Groote 2012:823).
Intelligenzminderung
Menschen mit Intelligenzminderung bzw. intellektueller Entwicklungsstörung zählen gesellschaftlich zu den vulnerablen Bevölkerungsgruppen (vgl. AWMF 2021:6). Das heißt, dass sie nicht in der Lage sind, die Herausforderungen des Lebens eigenständig zu meistern und unter Krisensituationen besonders leiden.
Intelligenzminderungen treten in unterschiedlichen, stufenweisen Ausprägungen auf und zeichnen sich durch eine hohe Heterogenität aus (vgl. Neuschmelting/Seifert 2022:246). Laut WHO (2000) wird eine Intelligenzminderung definiert als „eine sich in der Entwicklung manifestierende, stehen gebliebene oder unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, mit besonderer Beeinträchtigung von Fertigkeiten, die zum Intelligenzniveau beitragen, wie z.B. Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten.“ (AWMF 2021:18). In einem Zusatz heißt es weiter, dass nach sozialrechtlicher Definition (SGB IX, § 2 Abs. 1 Satz 1) Menschen des Weiteren als behindert gelten, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist.“ (AWMF 2021:18)
Menschen mit Intelligenzminderung zeigen vor allem Einschränkungen bei den kognitiven Fähigkeiten. Je nach Ausprägungsgrad der Entwicklungsstörung fällt es ihnen beispielsweise schwer, abstrakt zu denken, etwas Neues zu erlernen, Dinge und Aufgaben zu planen, Situationen zu beurteilen und Probleme eigenständig zu lösen. Auch sind Sprache, Motorik sowie soziale Fähigkeiten und oftmals auch das Seh- und Hörvermögen beeinträchtigt, woraus wiederum Probleme in der Kommunikation resultieren und die Teilhabe an Aktivitäten des täglichen Lebens deutlich erschwert werden. Dies zeigt sich in Lebensbereichen wie der Familie, der Schule, bei der Ausbildung oder ganz allgemein im sozialen Umfeld. Häufig ist eine dauerhafte Unterstützung der Betroffenen erforderlich. Zudem weisen Menschen mit Intelligenzminderung ein drei- bis vierfach erhöhtes Risiko auf, an psychischen Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten zu erkranken, als die Allgemeinbevölkerung (vgl. Macha/Petermann 2021). Damit verschlechtern sich ihre ohnehin geminderten Chancen auf Teilhabe zusätzlich.
Der Grad einer Intelligenzminderung wird anhand standardisierter Intelligenztests festgestellt. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass sich intellektuelle Fähigkeiten und die Fähigkeit zur sozialen Anpassung, wenn auch nur geringfügig, durch Übung und Rehabilitation positiv verändern lassen. Eine Diagnose sollte sich daher in erster Linie auf das gegenwärtige Funktionsniveau beziehen (vgl. DIMDI 2014 und DIMDI 2005).
Maßregelvollzug
In der Regel wissen wir, wann wir gegen bestehende Gesetze verstoßen. Es gibt aber auch Fälle, bei denen Menschen zum Zeitpunkt des Vergehens nicht schuldfähig waren. Die Eingangskriterien für Schuldunfähigkeit sind eine krankhafte seelische Störung, eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung, eine Intelligenzminderung - bis 2020 noch als Schwachsinn bezeichnet - oder eine schwere andere seelische Störung, bis 2020 noch schwere andere seelische Abartigkeit genannt (§ 20 StGB). Wenn Menschen erwiesenermaßen nicht fähig und einsichtig waren, das Unrecht ihres Delikts einzuräumen oder abzusehen, treten andere gesetzliche Regelungen in Kraft. Stellt ein Gericht nach sorgfältiger Begutachtung der Persönlichkeit von strafbar Handelnden und unter ausführlicher Beurteilung der Tat fest, dass sie als vermindert schuldfähig (§ 21 StGB) oder schuldunfähig (§ 20 StGB) eingestuft werden müssen, werden sie in einer sogenannten Maßregelvollzugsklinik oder forensischen Klinik untergebracht und behandelt (vgl. Watermann 2018:70). Unter Maßregelvollzug wird immer die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik (§ 63 StGB) und/oder die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) verstanden (vgl. Schaumburg 2003:9).
Die im Gesetzestext vorgegebenen Hauptaufgaben des Maßregelvollzugs sind die Besserung und Sicherung von straffällig Gewordenen. Beide stehen gleichbedeutend nebeneinander und sind untrennbar miteinander verbunden. Ziel ist es, durch Therapie Sicherheit zu schaffen (vgl. Schmidt-Quernheim 2008:93). Aufgrund des Risikoprofils und der Fluchtgefahr der Patient*innen, sind entsprechende Einrichtungen durch technische und bauliche Maßnahmen, wie Sicherheitsschleusen, Zäune, Fenstervergitterungen und Überwachungskameras ausgestattet, die fast jeden Winkel eines Geländes sowie der Räumlichkeiten überwachen.
Anders als im Strafvollzug ist die Unterbringung im Maßregelvollzug zeitlich unbefristet. Wann Patient*innen entlassen werden hängt davon ab, welche Therapiefortschritte sie machen. Ihre individuelle Entwicklung wird mindestens einmal im Jahr von Gutachtern und dem Gericht eingeschätzt. Ist ein Mensch im Maßregelvollzug durch eine Therapie nicht zu erreichen, muss das Gericht mindestens jährlich entscheiden, wie lange die Unterbringungsdauer verhältnismäßig ist. Der Maßregelvollzug dauert so regelhaft deutlich länger, als den Straftaten entsprechende Haftstrafen und kann sich auch über Jahrzehnte erstrecken.
Patient*innen im Maßregelvollzug kommen vorwiegend aus unteren sozialen Schichten und haben ein Leben außerhalb von Einrichtungen selten kennengelernt. Jede/r Dritte verbrachte die Kindheit und Jugend in einem Heim. Laut Thomas Hax-Schoppenhorst (2008) stellt sich ein typischer Werdegang folgendermaßen dar: Kinderheim, Erziehungsheim, Jugendvollzug, Gefängnis, Maßregelvollzug (vgl. Hax-Schoppenhorst 2008:68). Die Mehrheit hatte vor der Einweisung in den Maßregelvollzug ein oder mehrere Gefängnisaufenthalte hinter sich. Häufig fehlt es speziell Menschen mit Intelligenzminderung an einem Schulabschluss oder einer Ausbildung. Vornehmlich Patient*innen mit einer mittelgradigen Intelligenzminderung sind zudem Analphabet*innen (vgl. Neuschmelting/Seifert 2022:246). Hinzu kommt, dass viele Patient*innen einen Migrationshintergrund aufweisen, der nicht selten „mit einem radikalen Wechsel von Gewohnheiten und Lebensbedingungen sowie einem erhöhten Anpassungsdruck an neue Gegebenheiten verbunden ist“ (Pohlmann 2011:163).
„Scheitern ist für viele Strafgefangene eine alltägliche, meist konfliktbeladene Erfahrung“, schreibt Bammann (Bammann 2015:13). Gleiches gilt für Menschen, die im Maßregelvollzug untergebracht sind. Aufgrund ihrer Erfahrungen haben sie häufig ein geringes Selbstbewusstsein, haben kaum noch den Mut sich auf Neues einzulassen und zeigen wenig Ausdauer. Ihnen fehlt es oftmals an sozialen Kompetenzen und konstruktiven Problemlösestrategien. Nicht selten über- oder unterschätzen sie ihre eigenen Fähigkeiten oder haben gar keine Vorstellung davon, was sie können oder auch erreichen wollen (vgl. ebenda:17).
Fallbeispiel – Projektteilnehmer Herr S.
Herr S. ist 60 Jahre alt. Er wird auf der Unterbringungsgrundlage des § 63 StGB wegen versuchter sexueller Nötigung, vorsätzlicher Körperverletzung und exhibitionistischer Handlungen im Maßregelvollzug untergebracht. Diagnostisch liegen eine leichte Intelligenzminderung, eine deutliche Verhaltensstörung F70.1 sowie sonstige Verhaltensstörungen in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung F66.8 vor. Herr S. wird in Deutschland geboren und ist das zweite von fünf Kindern. Der Vater arbeitet in der Landwirtschaft und später in einem Stahlwerk. Er ist körperlich eingeschränkt. Die Mutter ist Hausfrau. Aufgrund des hohen Alkoholkonsums des Vaters kommt es zuhause zu heftigen Auseinandersetzungen.
Herr S. wird mit sechs Jahren eingeschult, muss aber die Schule nach zwei Jahren wieder verlassen, da er sich nicht sozial integrieren kann. Er zeigt starke Verhaltensauffälligkeiten, sodass ihn die Eltern in einem Heim unterbringen. Hier geht er in die Sonderschule. Im Alter von 10 Jahren kehrt er nach Hause zurück. Mit 13 Jahren wird eine Fürsorgeerziehung angeordnet und es erfolgt eine erneute Heimunterbringung. Im Alter von 16 Jahren schließt Herr S. die Sonderschule ab und kehrt erneut zu den Eltern zurück. In dieser Zeit arbeitet er als Hilfsarbeiter in einer Schachtanlage, wird aber kurze Zeit später als untauglich entlassen. Es folgt die Aufnahme in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen (WfbM), die nach wenigen Monaten wegen aggressiven Verhaltens ausgesetzt wird. Mit 18 Jahren wird Herr S. abermals in einem Heim untergebracht, aus dem er entweicht. Es folgen mehrere Arbeitsversuche, die schon nach kurzer Zeit mit einer Entlassung enden. In der Folge kommt es zu mehreren, zum Teil schwerwiegenden Delikten. Herr S. wird aufgrund von „Geistesschwäche“ entmündigt, d.h. er verliert auf richterliche Anordnung seine Geschäftsfähigkeit. Die darauffolgenden zehn Jahre sind geprägt von Delikten auf den Jugendarrest, mehrere Freiheitsstrafen und später eine Unterbringung im Maßregelvollzug folgen. Hier lebt er seit ca. 30 Jahren. Eine zwischenzeitliche Entlassung aufgrund von Verhältnismäßigkeit endete mit einer erneuten Straftat und führte Herrn S. in den Maßregelvollzug zurück. Eine positive Prognose, zukünftig in einem geeigneten Wohnheim leben zu können oder gar entlassen zu werden, besteht nicht.
Ein kulturgeragogisches Pilotprojekt für den Maßregelvollzug
„Aktivität und sinnvolle Beschäftigung sind Grundbedürfnisse eines jeden Menschen“, auch im Alter, schreibt Gisela Mötzing in ihrem Vorwort (Mötzing 2013). Aktivitäten strukturieren nicht nur den Tag, sondern fördern insbesondere den Kontakt und die Kommunikation. Zudem kann vernünftige Beschäftigung helfen, Ressourcen zu aktivieren und auszubauen sowie die Lebensqualität und Freude im Alter zu steigern. Menschen brauchen Freiräume, um sich entfalten zu können und zu sich selbst zu finden. Und das gelingt nur, wenn sie unabhängig und ohne äußeren oder persönlichen Zwang handeln und experimentieren können. Dieser Gedanke schließt an das Wesensmerkmal einer geragogischen Didaktik an, die „die Aspekte der Unplanbarkeit und Ergebnisoffenheit“ (Schramek 2016:7) im Alter berücksichtigt und würdigt. Werden Aktivitäten, wie in diesem Fall ein Kunstprojekt für ältere Menschen, geplant, ist es wichtig, ihre Erfahrungen, ihre Erlebnisse, ihr Wissen, ihre Biografie sowie ihre Lebenswelt in den Mittelpunkt zu stellen (vgl. Mötzing 2013).
Auf Grundlage dieser Ansätze und Ziele wurde das Pilotprojekt für den Maßregelvollzug entwickelt. Es bestand aus verschiedenen kreativen Anregungen, die den Teilnehmenden die Möglichkeit geben sollten, Bezüge zur eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen, Neues kennenzulernen, sich mitzuteilen, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu erfahren, das eigene Wohlbefinden zu steigern sowie Freude und Spaß zu erleben. Jede Einheit zeichnete sich dadurch aus, dass es sowohl eine Phase gab, in der sich die Teilnehmenden mit ihren eigenen Wünschen auseinandersetzen konnten, als auch eine experimentelle Zeitspanne, in der ihnen neue und anregende Impulse geboten wurden.
Für das kulturgeragogische Pilotprojekt mussten umfassende Vorbereitungen getroffen werden. Die Direktion der Klinik wurde informiert und darum gebeten, ihr Einverständnis zu geben, und es galt die Psycholog*innen, Ärzt*innen, Spezialtherapeut*innen sowie Pflegekräfte zu benachrichtigen und für das Vorhaben zu gewinnen. Zudem musste ein Raum hergerichtet und der Kontakt zur Zielgruppe angebahnt werden.
Zu den Rahmenbedingungen des Pilotprojekts
Der nächste Abschnitt widmet sich den Rahmenbedingungen des Pilotprojekts. Beschrieben werden die Zielgruppe sowie die Aspekte Raum, Material, Zeit, Setting und Verlauf. Auch werden die Struktur und der Inhalt der Einheiten vorgestellt.
Zur Zielgruppe
Das Pilotprojekt war ausgerichtet auf männliche Patienten mit Intelligenzminderung, die im Maßregelvollzug behandelt werden und älter sind als 57 Jahre. Zum Zeitpunkt der Durchführung gab es vier Männer, die diese Voraussetzungen erfüllten. Ein Patient verweigerte die Teilnahme und ein weiterer war zum Zeitpunkt des Projekts krankheitsbedingt nicht dazu in der Lage, sodass vorerst nur Herr S. und Herr R. am Projekt teilnehmen konnten.
Zum Raum
Räume, in denen Kunstprojekte durchgeführt werden, können Botschaften vermitteln und die Haltung einer Projektleitung widerspiegeln. Sie legen offen, wie darin gearbeitet werden kann, was erwünscht und was realisierbar ist. Räume beeinflussen das Erleben und Verhalten der Projektteilnehmer*innen und wirken sich positiv auf ihren individuellen Entwicklungs- bzw. Lernprozess aus (vgl. Gunkel 2016:26; Winderlich 2020:1f; Schrame 2016:7 und vgl. Watermann 2018:59).
Eine anregende und gleichzeitig vertrauensvolle Atmosphäre entsteht beispielsweise dann, wenn ein Raum vielfältige Funktionen und Aktivitäten ermöglicht. Günstig ist, wenn er persönliche Arbeitsbereiche bereitstellt, wenn ausreichend Platz für Austauschmöglichkeiten gegeben ist und wenn Rückzugsmöglichkeiten für Ruhe und Entspannung zur Verfügung stehen. Bedeutsam ist außerdem, dass körperliche Bedürfnisse wie Hunger und Durst befriedigt werden und ältere Teilnehmer nicht durch äußere Reize, wie Lärm in ihrem kreativen Lernprozess gestört werden (vgl. Mötzing 2013:27).
Bei der Installation des Raumes wurde besonders darauf geachtet, ihn so herzurichten, dass alles leicht erreichbar ist und Zugänge nicht behindert werden, um je nach Wunsch der Patienten und kulturgeragogischen Methode – alleine, zu zweit oder auch in der Gruppe an Tischen, Staffeleien, am Boden oder an einer großen Malwand zu arbeiten (Abb. 1). Nur Werkzeuge wie Zangen, Feilen oder Scheren und andere möglicherweise gefährliche Gegenstände wie Lacke, wurden aus Sicherheitsgründen unter Verschluss gehalten.
Zu den Materialien
Künstlerische Materialien bilden die wichtigste Grundlage für unbekannte Erfahrungen und neue Erkenntnisse innerhalb eines Kunstprojekts. Sie wirken unmittelbar, regen unterschiedlich an und wecken den Entdeckergeist. Steht eine Vielfalt an qualitativ hochwertigen Materialien zur Verfügung, fördert dies zudem das Gefühl von Freiheit und Autonomie (vgl. Watermann 2021:86).
Um die Bedürfnisse und Fähigkeiten der älteren Patienten auf vielerlei Ebenen anzusprechen, wurde darauf geachtet eine große Auswahl an Materialien anzubieten, wie Acrylfarben, Buntstifte, Pastellkreiden, Filzstifte und Wachskreiden. Es gab aber auch Materialien, die eher einen körperlichen Einsatz erforderten wie Ton, Speckstein, Holz und Gips. Zudem fanden sich Kunstbücher, Zeitschriften, Gebrauchsmaterialien oder auch Gegenstände aus der Natur (Muscheln, Steine, Blätter, Sand) in den Regalen. Äußerte ein Teilnehmer einen Materialwunsch, weil dieser ihn an frühere Tätigkeiten erinnerte – wie beispielsweise Kartoffeldruck -, wurde dieser nach Möglichkeit erfüllt.
Zeit, Setting und Verlauf
Das Pilotprojekt wurde als Einzelförderung angeboten, fand einmal wöchentlich statt und beinhaltete sechs Module mit einer jeweiligen Länge von 45 Minuten.
Im Vorfeld des Projekts wurde mit jedem Teilnehmer ein Informationsgespräch durchgeführt, um den Kunstraum sowie die Materialien vorzustellen, das Kunstprojekt mit seinen Möglichkeiten und Zielen näher zu bringen und um beiderseitig Fragen stellen zu können. Außerdem wurde ein Fragebogen eingesetzt, um effektiver an den Bedürfnissen der Männer anknüpfen zu können. Dieses selbst entwickelte Instrument wurde bereits in anderen Kunstprojekten erfolgreich eingesetzt (vgl. Watermann 2018:109) und für die Arbeit mit Menschen mit Intelligenzminderung sprachlich angepasst. In diesem Fragebogen werden die Teilnehmer danach gefragt, welche Materialwünsche sie haben, wo sie ihre eigenen Stärken und Schwächen sehen und welche Wünsche und Ziele sie für das Kunstprojekt haben. Hierzu können sie aus den fünf Kategorien ‚Gefühle und Wünsche‘, ‚Fantasie und Kunst‘, ‚Mut und Vertrauen‘, ‚Ich und die Anderen‘ sowie ‚Durchhalten und Dranbleiben‘ auswählen, um sich zum Abschluss für die wichtigsten drei Wünsche zu entscheiden. Folgendes formulierten die beiden Männer für ihre Teilnahme am Kunstprojekt:
Herr S.
- Was ist Ihr wichtigster Wunsch: ernst genommen werden.
- Was steht an zweiter Stelle: Die Produkte, die ich mache, sollten Sinn haben und respektiert werden.
- Was steht an dritter Stelle: Zuverlässigkeit. Dass es hier weitergeht und nicht sofort wieder vorbei ist.
Herr R.
- Was ist Ihr wichtigster Wunsch: Ein Hobby haben.
- Was steht an zweiter Stelle: Herausfinden was ich mag oder nicht mag.
Zum Ende der Projektphase wurden die Teilnehmer um eine abschließende mündliche Bewertung gebeten. Dabei wurden Ihnen drei Fragen gestellt: Was hat Ihnen gefallen? Was hätten Sie gerne anders gehabt? Was wünschen Sie sich zum Abschluss? Die Ergebnisse der Befragung werden im Fazit zusammengefasst wiedergegeben.
Struktur und Inhalt der Module
Der Ablauf einer Projekteinheit folgte einer immer gleichen Struktur, wobei die Inhalte und der zeitliche Rahmen, je nach Bedarf, dynamisch und prozessorientiert gehandhabt werden konnte. Dies war beispielsweise dann der Fall, wenn ein Teilnehmer belastet zur Einzelförderung erschien, weil eine Begutachtung oder Visite bevorstand.
Ein Modul gliederte sich in fünf Phasen:
- Anfangsphase
- Einstiegsphase
- Kreativer Hauptteil
- Reflexionsphase
- Abschlussphase
Die Anfangsphase diente dazu den Teilnehmer verbindlich zu begrüßen und ihm neben Mineralwasser auch Kaffee, Tee und Gebäck anzubieten. Danach wurde seine aktuelle Befindlichkeit und seine persönlichen Ziele für die Einheit erfragt und darüber hinaus Raum für Eindrücke, Wünsche oder Erwartungen gegeben. Wichtig war dabei immer die Freiwilligkeit der Aussagen des Patienten. Danach erfolgte die Einstiegsphase. Sie diente entweder dazu, auf den darauffolgenden kreativen Hauptteil einzustimmen oder den Teilnehmer dazu zu bewegen, sich intuitiv mit Materialien oder vorgegebenen Themen auseinanderzusetzen. So wurde ihm beispielsweise ein Satz mit einem entsprechenden Bild dargeboten auf dem stand: „Ich würde gerne mal…, weil…“, „Wenn ich mein Therapeut oder meine Therapeutin wäre, würde ich…“ oder „Eine Insel nach meinem Geschmack“ (Abb. 2).
Im kreativen Hauptteil konnte sich der Teilnehmer in Form von individueller Einzelarbeit mit seinen eigenen Wünschen befassen, indem er sich beispielsweise mit persönlichen Themen oder vergangenen positive Erfahrungen auseinandersetzte (Abb. 3) oder er ließ sich auf verschiedene Techniken oder Materialien ein, um damit zu experimentieren und sich darüber besser kennenzulernen (Abb. 4). In der daran anschließenden kurzen Reflexionsphase wurde das Werk gemeinsam betrachtet und auf die Erlebnisse und Erkenntnisse des Teilnehmers eingegangen. Beendet wurde jede Einheit mit der Abschlussphase, die dazu diente, die angefertigten Werke mit Datum und Namen zu versehen, diese gegebenenfalls in einer eigenen Sammelmappe unterzubringen und sich erneut verbindlich voneinander zu verabschieden.
Aussicht
In diesem Aufsatz wurde ein kulturgeragogisches Pilotprojekt mit künstlerischem Ansatz für männliche Patienten mit Intelligenzminderung im Maßregelvollzug vorgestellt. Die Intention war, herauszufinden welche Gelingensbedingungen hierfür notwendig sind und welche Methoden sich als gute Praxis erweisen. Nachfolgend sollen erste Eindrücke vorgestellt werden.
Die abschließende mündliche Befragung der Teilnehmer ergab, dass beide Männer gerne am Projekt teilgenommen haben, ihre Werke gerne anderen Menschen zeigen und sich eine Fortführung der kreativen Einzelförderung wünschen. Positiv hervorgehoben wurde besonders die Ruhe während der Einheiten. Auch wurde der respektvolle Umgang genannt und der Umstand, dass sich jemand die Zeit nimmt, um ihnen zuzuhören und sich mit ihnen individuell zu beschäftigen.
Aus kulturgeragogischer Sicht wurde deutlich, dass die Arbeit mit dieser Klientel eine beträchtliche Flexibilität, viel Geduld, ein hohes Motivationsgeschick und vor allem eine umfassende Kenntnis über künstlerische Methoden- und Techniken erfordert, um angemessen auf die Bedürfnisse der Patienten einzugehen. Auch scheint wichtig, ihnen für die kreative Auseinandersetzung viel Zeit zu lassen, neue Techniken konkret vorzumachen, sie in ihrem Tun direkt zu begleiten oder selbst mitzumachen. Auch sollten die künstlerischen Anregungen individuell auf sie zugeschnitten sein, ihre Neugierde wecken und schnell zu überzeugenden Ergebnissen führen, ohne sie dabei zu überfordern.
Beide Männer zeichneten sich anfangs dadurch aus, dass sie – anders als bei jüngeren Patient*innen beispielsweise aus der Akutpsychiatrie - trotz großer Materialauswahl auffallend wenig Begeisterungsfähigkeit zeigten, hinsichtlich der kreativen Möglichkeiten, die sich ihnen boten. Dies könnte u.a. darauf zurückzuführen sein, dass die Teilnehmer in der Vergangenheit wenig positiv geprägte Lernsituationen erfahren haben und wenig individuelle Unterstützung bei der Entfaltung ihrer Möglichkeiten erhielten.
„Kreative Tätigkeiten haben einen positiven Einfluss auf die Gesundheit von Älteren“, meint Kim de Groote (de Groote 2010:15) und bezieht sich dabei auf eine Langzeitstudie von Gene Cohen (2006). Dieser konnte nachweisen, dass ältere Menschen, die sich kreativ betätigen weniger zum Arzt gehen, nicht so viel Medikamente benötigen, sich nicht so einsam fühlen und einen besseren psychischen Allgemeinzustand aufweisen (Cohen 2006:191 ff). Von diesen Ergebnissen ausgehend, könnte dies möglicherweise für die hier beschriebene Personengruppe mit ihrer multiplen Vulnerabilität bedeuten, dass sich durch künstlerische Angebote nicht nur ihr allgemeines Wohlbefinden verbessert, sondern auch, dass sich ihre Aufenthaltsdauer möglicherweise verringert.
Bernhard Leipold (2012) meint: „Bildung ist in nahezu allen Lebensabschnitten möglich und auch notwendig. Die Frage, wie »erfolgreiche« Entwicklung, wie »gelingendes Altern«“ aussehen kann, hängt offenbar auch wesentlich davon ab, welche kulturellen und sozialen Anstrengungen eine Gesellschaft in ihre Mitglieder investiert“ (Leipold 2012:250). Alte Menschen mit Intelligenzminderung im Maßregelvollzug haben keine Lobby. Sie gehören zu einer gesellschaftlich vernachlässigten und vergessenen Personengruppe, für die es dringend kulturgeragogische Konzepte braucht. Zukünftig wird es darauf ankommen, Angebote zu entwickeln, bei denen die Qualität, die Rahmenbedingungen und der Anspruch stimmen (vgl. Fricke/de Groote 2010:11), damit der gesellschaftliche Auftrag einer Teilhabe für Alle auch in diesem schwierigen Feld Wirklichkeit wird.