Ästhetische Dimensionen digital vernetzter Kunst: Forschungsperspektiven im Anschluss an den Begriff der Postdigitalität
Abstract
Der Begriff der Digitalität verweist auf eine Vielzahl komplexer und asynchroner Prozesse, die sich in unterschiedlicher Weise auf Individuen und gesellschaftliche Bedingungen, auf materielle Umwelten sowie auf kulturelle Praxen auswirken und durch diese wiederum beeinflusst werden. Der in diesem Text zentrale Begriff der Postdigitalität bündelt das weite Feld aktueller Forschung zur Digitalisierung, indem er die soziokulturelle Einbettung digitaltechnologischer Entwicklungen fokussiert. Ausgehend von diesem Begriff werden exemplarisch Forschungsfragen und ästhetische Dimensionen von Digitalität in den Blick genommen, die in Kunst- und Kulturtheorie und anderen Bezugswissenschaften der Kulturellen Bildung derzeit verhandelt werden. Der Text macht ein Vorschlag für eine gemeinsame Arbeit an den hier aufgeworfenen Fragen zur Forschung an ästhetischen Praxen und Formen von Kunst im Kontext Kultureller Medienbildung.
Postdigital, in artistic practice, is an attitude that is more concerned with being human, than with being digital. (Wikipedia)
Technologie im Kontext digitaler Kulturen
„What are you doing on your computer?”, fragt die Mutter im Apple-Werbespot ihre Tochter im Teenageralter, die bäuchlings auf dem Rasen liegt. Ein iPad vor sich, das sie den ganzen Tag bei sich trug, mit dem sie Fotos machte, per Videoanruf Freund*innen traf, Präsentationen für die Schule vorbereitete, zeichnete, chattete, Comics las: „What‘s a computer?“, fragt diese beiläufig zurück. Für sie ist das Tablet interaktives Musikstudio, Kamera, Telefon, Fernseher, Radio, Skizzenbuch, Enzyklopädie, Stadtplan, Präsentationstool und Bibliothek zugleich. Unterschiedliche Medien und mediale Praktiken, die zuvor an verschiedenen Orten situiert und mit anderen Zugangsvoraussetzungen verbunden waren, sind damit in das flache Gerät eingezogen und tragbar geworden. Seine Oberflächengestaltung sorgt dafür, dass die Bedienung von Anwendungen im wörtlichen Sinne kinderleicht geworden ist und keine speziellen Computerkenntnisse mehr erfordert. Gleichzeitig sind in seinem Design die Ideen und auch Ideologien von Programmierer*innen des Silicon Valley eingegangen. Diese sind – zum Großteil nicht sichtbar – mit der elaborierten Lebensphilosophie eines oft kreativ arbeitenden, in der großen Mehrzahl westlich sozialisierten Milieus verbunden und bilden einen konjunktiven Erfahrungsraum (Jörissen 2017a nach Karl Mannheim), dessen Potenzialität bereits bei der Nennung des Produktnamens aufleuchtet. – Das Tablet ist demnach nicht nur technisches Gerät, sondern assoziiert mit kulturellen Praxen, Einstellungen und zugleich Möglichkeiten wie Beschränkungen der Relationierung und Nutzung qua Design.
Digitalisierung ist in ihrer historischen wie gegenwärtigen Gesamtheit kaum zu erfassen (Jörissen 2019, siehe: Benjamin Jörissen „Digital/Kulturelle Bildung“), selbst wenn die Rede von der Digitalisierung eine geschlossene Einheit suggerieren mag. Anstatt digitale Medien sicherheitshalber als Hilfsmittel oder Werkzeug zu adressieren, wie aktuell etwa im Digitalpakt häufig der Fall, sollte Digitalisierung daher vielmehr als Knotenpunkt zur Beschreibung quantitativer sowie qualitativer Veränderungen materiell-kultureller Bedingungen, gesellschaftlicher Strukturen sowie individueller Wahrnehmungs- und Handlungsweisen verstanden werden. Diese Aspekte werden mit der terminologischen Verschiebung des Postdigitalen hervorgehoben.
Ich möchte den Begriff des Postdigitalen an dieser Stelle vorläufig als Bündelung unzähliger Debatten zur Digitalisierung in der Kulturellen Bildung, speziell im engeren Bezug auf ästhetische Dimensionen künstlerischer Arbeiten, anbringen und ausgewählte Forschungsperspektiven in den Blick nehmen. Mein langfristiges Ziel ist, entlang dieser und weiterer Ansätze eine Erarbeitung möglichst dichter Beschreibungen aktueller postdigitaler Bedingungen für die kulturelle Medienbildung anzuschließen.
Digitaler Wandel
Nach der anfänglich verbreiteten Euphorie und Hoffnung auf Demokratisierung, egalitäre Partizipation und Dezentralisierung machtvoller Einflussgrößen durch vernetzte Personal Computer, impliziert eine postdigitale Gegenwart die Notwendigkeit, innerhalb von Strukturen monopolisierter Plattformen, von Aufmerksamkeitslenkung, flächendeckender Datenerfassung und unüberschaubarer, bedeutungserzeugender Aussagenkomplexe zu agieren (Caygill/Leeker/Schulze 2017). Apparaturen verschwinden zunehmend hinter Gehäusen und werden nicht mehr als technisch wahrgenommen, algorithmisierte Prozesse, die Politik und Alltag mitschreiben, sind weder einsehbar noch in ihrer Komplexität für Einzelne verstehbar. Im Kontext von kultureller Medienbildung geht es deshalb verstärkt um die Frage, welche Normen, Regulierungen und Gesetze, welche (ästhetischen) Regimes in digital vernetzten Welten wirksam werden und welche Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten darüber hinaus denkbar sind. Denn selbst, wenn es sich bei der Digitalisierung um asynchrone und graduell verschieden wirkende Prozesse handelt (Cox 2014), berühren und verändern diese in einem sozialen Gefüge die Wahrnehmungs- und Vorstellungswelten, die normativen Lebensrealitäten aller.
Gefolgt der Annahme, dass sich Technologien, Gesellschaften und Individuen stets an- und miteinander konstituieren (Baecker 2007), wäre es unzureichend und verkürzt, Digitalisierung v.a. auf technologisch-deterministische Erklärungen zu gründen, sie also auf die Geschichte elektronischer Computer und digitaler Technologien und deren gesellschaftlichen Einfluss zu beschränken.
Zum einen beschreibt Digitalisierung, obwohl gängig postuliert, keinen abrupten Prozess. Ihr gehen kulturhistorische, soziale und machtpolitische Strukturbedingungen voraus, die diese erst konzipierbar und breitenwirksam akzeptabel werden lassen. Benjamin Jörissen führt dies am Beispiel der „Quantifizierung von Zahlverständnissen, der Organisation von ‹Wissen› im proto-datenbankförmigen Tableau und der Verknüpfung von Subjektivität und Sichtbarkeit“ (Jörissen 2016:29) aus: „Digitalisierung ist (...) nur insofern und in dem Maß möglich, als sie an vorhandene kulturelle Formen und deren latente Transformationspotenziale anschließt“ (ebd.).
Zum anderen ist medienkultureller Wandel durch neue Informations- und Kommunikationsmedien beteiligt an gesellschaftlichen Transformationsprozessen, die wiederum über das jeweilige Leitmedium hinausweisen (Baecker 2007). Am Beispiel des Buchdrucks lässt sich etwa die Beteiligung eines Netzes unterschiedlicher Akteure nachvollziehen: Die massenhafte Verbreitung von Druckerzeugnissen als Voraussetzung für die Teilnahme und Teilhabe an Gesellschaft trug im Wesentlichen zur Alphabetisierung der Massen bei bzw. machte umgekehrt das Erlernen der Kulturtechniken des Lesens und Schreibens gleichermaßen erforderlich. Dazu war die Etablierung neuer Institutionen wie der Schule für alle, die Ausbildung von Lehrer*innen, Bildungsministerien, Verlagen, Bibliotheken etc. notwendig, um eine Infrastruktur zur Weitergabe dieser Kulturtechniken zu installieren (Sesink 2008). Darüber hinaus konnten sich durch die neuen Möglichkeiten der Vergleichbarkeit und Erzeugung von Schriftstücken in der Moderne kritische Instrumente verbreiten sowie daran anknüpfend langfristig Konzepte von Individualität, Autor*innenschaft und Personenrechten herausbilden (ebd., Baecker 2007). Mit veränderten medialen Bedingungen gehen demnach, so kann es zusammengefasst werden, langfristig Veränderungen von Subjektivation, Kulturtechniken und auch Prozessen der Institutionalisierung einher (Meyer/Jörissen 2015). Dies kommt in besonderer Weise im Begriff des Postdigitalen zum Ausdruck.
Der Begriff der Postdigitalität
Der Begriff des Postdigitalen hat sich in den Künsten, den Human- und Sozialwissenschaften und in transdisziplinären Ansätzen (Jandrić et al. 2018) sowie in der Kulturellen Bildung (Jörissen 2017b, siehe: Benjamin Jörissen „Subjektivation und „ästhetische Freiheit“ in der post-digitalen Kultur“) mittlerweile etabliert. Bisweilen mit digitalen Kompetenzdebatten verbunden (Dufva 2018), ist doch folgende Annahme grundlegend: Digitale Technologie ist soweit mit sozialen, kulturellen, politischen und auch geografischen Umwelten verwoben, dass daraus neue kulturelle und symbolische Formen resultieren, die über ein Digitales – verstanden als diskrete, in Binärcode übertragbare Einheiten bzw. Hard- und Software – hinausgehen. Der technische Charakter der Digitalisierung tritt in der Terminologie der Postdigitalität zugunsten soziokultureller Faktoren in den Hintergrund. Der Begriff der Postdigitalität bildet einen Knotenpunkt für aktuelle Kunst sowie Forschung, die „die heutigen informationstechnisch-industriell-politischen Komplexe und Regimes reflektiert” (Cramer 2016).
Das Präfix Post verweist dabei auf relationale Transformationsprozesse materiell-kultureller Bedingungen (Jörissen/Unterberg 2019), durch Digitalisierung veränderte Handlungs- und Wahrnehmungsweisen (Stalder 2017) und die Ausbildung neuer (Macht-)Strukturen (Cramer 2015). Es soll hier als produktiver Platzhalter verstanden werden, als eine noch unbestimmte Variable, die sich insbesondere den Offenheiten von Digitalisierungsprozessen, als einer Zone der Aktivität (Bourriaud 2002), widmet (für eine genauere Begriffsdiskussion vgl. Klein 2019).
An dieser Stelle soll ein Blick auf Forschungsdimensionen geworfen werden, die aktuell mit dem Begriff des Postdigitalen verbunden sind. Während das Wissen um technologische, gesellschaftlich-kulturelle und anwendungsbezogene Perspektiven gleichermaßen notwendig ist, um Digitalisierung bzw. Digitalität in der Kulturellen Bildung produktiv begegnen zu können (Dagstuhl 2016), werden hier speziell für die kulturelle Medienbildung aktuell relevante kultur- und kunsttheoretische Perspektiven des Begriffs in Bezug auf ästhetische Dimensionen künstlerischer Artikulationen erfasst. Kunst und Theorie werden dabei auf unterschiedliche Weise zum Gegenstand und Anlass der Befragung.
Ästhetische Dimensionen technologischer Infrastrukturen
Ästhetische Dimensionen künstlerischer Arbeiten lassen die zu großen Teilen im Hintergrund ablaufenden Prozesse digitaler Vernetzung (be-)greifbar und Wirkungsmechanismen anders verhandelbar werden.
In aktueller postdigitaler Kunst, so die zugrundeliegende These, zeigen sich Artikulationen digitaler Kultur in konzentrierter Form. Sie gehen über begrifflich-diskursive Beschreibungen hinaus und können somit in besonderer Weise zu einem mehrdimensionalen Verständnis von Digitalisierung beitragen (Jörissen/Unterberg 2019), um (ggf. andere) Umgangsweisen mit Digitalisierung produktiv werden zu lassen.
Der Künstler James Bridle verfasst mit The New Aesthetic z.B. eine fortlaufende kritische Studie zur Wechselwirkung digitaler Technologien zu sozio-ökonomischen, kulturellen und politischen Fragen, die in Codes, Protokollen, Standards und Datenformaten, in alltäglichen Anwendungen von Computertechnologie unsichtbar bleiben, jedoch Realität maßgeblich mithervorbringen. Ästhetische Dimensionen – Ästhetik hier verstanden im weiteren Sinne nicht nur des sinnlich Wahrnehmbaren, sondern auch der zugrundeliegenden Produktionsbedingungen – bilden für Bridle eine erste Ebene der Auseinandersetzung, um tieferliegende Verflechtungen zu adressieren: “It is impossible [...] not to look at these images and immediately start to think about not what they look like, but how they came to be and what they become: the processes of capture, storage, and distribution: the actions of filters, codes, algorithms, processes, databases, and transfer protocols; the weights of datacenters, servers, satellites, cables, routers, switches, modems. Infrastructures physical and virtual; and the biases and articulations of disposition and intent encoded in all of these things.” (Bridle 2013) Kunst, Design, ästhetische Phänomene der Alltagskultur werden in postdigitalen Ästhetik-Theorien (Berry 2015, Contreras-Koterbay/Mirocha 2016) nicht auf ihre Oberfläche reduziert, sondern geben, auch in glatter und popkulturell aufgeladener Gestalt (Schütze 2019), Auskunft über Relationierungs- und Subjektivierungsprozesse, kulturelle Formen und Formate und neue mediale Praxen im Kontext von Digitalität. Darüber hinaus ermöglichen sie andere wissenstheoretische sowie ästhetische Zugänge zur Welt, etwa durch Kombination, Visualisierung und narrative Verbindung großer Daten- und Bildmengen (z.B. Arbeiten von Forensic Architecture/Nathalie Bookchin). Sie können wiederum Ausgangspunkt weiterer ästhetischer Reflexion und Bearbeitung werden.
Kulturelle Bildung kann insbesondere an den ästhetischen und kulturellen Codes der digital vernetzten Welt ansetzen und alternative Entwürfe entwickeln, um durch ästhetische Mittel etwa bildliche Repräsentationen und Umgangsweisen mit netzkulturellem Wissen zu verändern.
Im Folgenden werden ästhetische Dimensionen technologischer Infrastrukturen in vier Ausprägungen skizziert:
Diese vier Dimensionen werden anhand kultureller Orientierungen beschrieben, jeweils exemplarisch abgebildet in Extremwerten eines Spektrums (Abb. 2, 3, 5 und 6). Die Orientierungen existieren dabei zeitlich parallel, manifestieren sich jedoch in verschiedenen kulturellen Kontexten unterschiedlich. In ihrer verkürzten thesenartigen Form sind sie als Diskussionsangebot zu verstehen.
Kulturelle Praxen, Formen und Formate
Digitalisierung bedingt und verändert Produktions-, Distributions- und Rezeptionsweisen von Kunst.
Dies lässt sich exemplarisch in den Arbeiten Ryan Trecartins zeigen. In der Montage seiner Filme bildet sich eine „Überlagerung und Verdichtung der uns bekannten Formate und symbolischen Formen“, die die „symbolischen Codes ihrer Darstellung“ (Zahn 2017) hervorheben. Durch Überzeichnung, durch Zitat und Rekombination in hoher Frequenz werden in Trecartins Videofilmen und Installationen Qualitäten postdigitaler Kultur thematisch. Digitale Artefakte lassen sich beliebig oft und in neuer Geschwindigkeit verändern, koppeln, teilen und immer wieder in andere Kontexte bringen. Dies unterscheidet sie wesentlich von Vorgängern tradierter Kunst. Im Modus der Postproduction (Bourriaud 2002) verschieben sich künstlerische wie alltagskulturelle Selbstverständlichkeiten; alle Digitalisate sind potenziell veränderbar: „Statt rohes Material in schöne oder neue Formen zu verwandeln, machen die KünstlerInnen der ‚Postproduction‘ Gebrauch vom kulturell Gegebenen als Rohmaterial, indem sie vorhandene Formen und kulturelle Codes remixen, copy/pasten und ineinander übersetzen.“ (siehe: Torsten Meyer „What’s Next, Arts Education?”) Kulturelle Praxen lassen sich im Fall der Postproduction zunehmend als Kulturproduktion in der Logik der Datenbank als symbolischer Form (Manovich 1999) beschreiben, letztere verstanden als Grundstruktur der Produktion, Sichtbarkeit und Ordnung von (gegebenem) Wissen, aus der neue kulturelle Formen und Praxen hervorgehen.
Zugleich verändern sich durch aktuelle kulturelle Praxen bekannte Reflexionsweisen und Valorisierungssysteme. Beobachtbar ist dies zum Beispiel am Status des Kunstwerks. Nicht zwangsläufig ist Kunst als originäres Werk (siehe: Torsten Meyer „What’s Next, Arts Education?”) zu verstehen, dem auratische Gegenstandshuldigung gebührt. Trecartins Filme etwa sind in großer Zahl frei online verfügbar, werden so neben Ausstellungssituationen des professionalisierten Kunstmarktes weitläufig online distribuiert und den Aufmerksamkeitslogiken des Netzes unterstellt. Beide Orientierungen existieren parallel und kontextspezifisch.
Um komplexe Zusammenhänge zwischen verschiedenen Entitäten und veränderten kulturellen Formen zu verstehen, werden speziell in der Kunst- und ästhetischen Theorie z.B. die Verlinkungen, Assoziationen und relationalen Bezüge zwischen Bildern diskutiert (Sabisch/Zahn 2018), u.a. in Bezug auf Vergegenwärtigungsstrategien am Beispiel der Kunst der Gegenwart (Schütze 2019). Diese müssen, im Sinne einer gegenwartsnahen Kulturellen Bildung, zunehmend auch im Kontext algorithmisierter Wahrnehmungs-, Distributions- und Produktionsweisen befragt werden (Leeker 2018).
Subjektkonstellationen
Digitalität und speziell Netzwerklogiken bringen andere Bildungsprozesse hervor, die wiederum neue Theorien des (ästhetischen) Subjekts und des Kunstwerks erfordern.
In Anbetracht postdigitaler kultureller Praxen stellt sich die Frage, was es bedeutet „in einer immer stärker von algorithmischen Logiken und datenbankkompatibler Weltproduktion abhängigen Kultur Subjekt zu sein?“ (Jörissen 2017b, siehe: Benjamin Jörissen „Subjektivation und „ästhetische Freiheit“ in der post-digitalen Kultur“). Künstler*innen wie Dorota Gawęda and Eglė Kulbokaitė verorten Figuren wie Agatha Valkyre Ice (Gawada/Kulbokaitė o.J.) beispielsweise gleichermaßen in GoogleDocs, Gamespaces und Galerieräumen und performen diese kollektiv in nomadischen Situationen, durch menschliche Akteure gleichermaßen wie durch Räume, Algorithmen und Devices. Die Kulturelle Bildung steht hier vor neuen Herausforderungen wie beispielsweise der Zuordnung von Handlungsmacht und gleichsam der Adressierbarkeit eines handlungsfähigen Subjekts. Es braucht dazu adäquate theoretische Beschreibungen von Subjekt-Konstellationen im Kontext postdigitaler Kunst. Mit Bezug auf verschiedene, u.a. netzwerktheoretische und/oder posthumane Positionen zeichnen sich derzeit Versuche ab, Subjektivierung als Ko-Konstitution materieller und diskursiver Relationen von Natur, Kultur und Technologie durch menschliche und nicht-menschliche Akteure zu verstehen. Damit werden der gegenwärtigen Zentralität menschlicher Akteure in den humanistischen Wissenschaften des globalen Nordens alternative Theoriemodelle gegenübergestellt.
Der Begriff der Postdigitalität verstärkt dabei die Aufmerksamkeit für ökologische, politische und soziale Fragen, indem er Vorstellungen von Natur-Kultur/Mensch-Technik-Dichotomien überwindet. Diese könnten dazu verleiten, hegemoniale Kräfte technologisch-kultureller Apparate zu übersehen (Kanderske/Thielmann 2019). An den Diskurs der Postdigitalität sind weitere theoretische Überlegungen zur Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2005), zum Neuen Materialismus (Bennet 2010, Dolphijn/van der Tuin 2012), zur Object Oriented Ontology (u.a. Bogost 2012) und zum Posthumanismus (Haraway 2016, Braidotti/Hlavajova 2018) angeschlossen. Spezieller auf die Kunst bezogen finden sich entsprechend Thesen zur verteilten Ästhetik (Gye/Munster/Richardson 2005) oder zu Effekten der Zirkulation von Kunst und deren Auflösung in verschiedenen Akteurseinheiten (Joselit 2013). Das als dispers gedachte Subjekt bzw. Kunstwerk (Schütze 2019) bildet neue Voraussetzungen und bedingt Redefinitionen – z.B. der Partizipation (Götz 2019, Leeker 2018), der Inklusion (Reddington/Price 2018, Hahn 2019) und kuratorischer Fragen (Schroer 2019). Vor dem Hintergrund global vernetzter Medialität spiegeln sich veränderte Subjektverständnisse zudem in neuen Lehr- und Lernformen der Kollaboration (Rousell/Fell 2018) und allgemein Fragen der Mediatisierung, z.B. des lernenden Netzes „und die sich darin bildenden Communities“ (Jörissen/Meyer 2015).
Materielle Konkretionen
Digitalität durchdringt Materialität und ko-konstituiert diese.
Während die Digitalisierung seit den 1970er Jahren häufig einseitig in Bezug auf Topoi der Virtualität oder Simulation diskutiert wurde (Kanderske/Thielmann 2019), sorgten nicht zuletzt mobile internetfähige Geräte mit dem Internet verbundene Alltagsgegenstände des Internet of Things und sensorisch ausgestattete Umwelten dafür, dass sich diese verkürzte Fokussierung auf bzw. Kritik an „digitaler Immaterialiät“ im Sinne hybrider Räume konzeptionell erweitert. Unter dem Begriff der Postdigitalität wird Digitalität besonders in seinen materiellen, sensuellen und affektiven Dimensionen thematisch.
Materialität ist sowohl Grundlage (digitale Endgeräte, Interfaces), Gegenstand (Digitalisierung analoger Medialität) als auch Produkt (digitale Hervorbringung materieller Phänomene z.B. durch 3D-Druck) der Digitalität (Jörissen/Underberg 2019). Exemplarisch zeigen sich diese Ebenen als digital informierte Materialitätstransformationen in der Arbeit Image Objects (2011 – fortlaufend) des Künstlers Artie Vierkant: Zunächst am Rechner projektiert, umfasst die Arbeit sowohl industriell gefertigte Skulpturen als auch deren fotografische Dokumentation online, die, zum Teil an der Grenze des Erkennbaren, Modifizierungen durch Photoshop-Gesten und Filter aufweist (Image Object, print on aluminium composite panel, altered documentation image).
Die Installationsansichten werden zur Erweiterung der ausgestellten Objekte und beeinflussen wiederum, welche weitere Formen die Arbeit annimmt. Die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Rezeption ist hier hinfällig, da die Arbeit in jeder Situation durch andere, spezifische ästhetische Qualitäten charakterisiert ist (Vierkant o.J.). Die Augmented-Reality-App der Image Objects eröffnet eine weitere Ebene und ermöglicht die Navigation durch und Interaktion mit der Arbeit in Überlagerung und Wechselwirkung screenbasierter, prozessualer und physischer Materialität (siehe: Lea Herlitz/Manuel Zahn Bildungstheoretische Potentiale postdigitaler Ästhetiken – Eine methodologische Annäherung).
Mit theoretischen Ansätzen wie der zuvor benannten Akteur-Netzwerk Theorie, des Neuen Materialismus und der Object-Oriented Ontology werden Materialität bzw. Materie, Dinge/Dinglichkeit in ihren Affordanzstrukturen, d.h. bezüglich ihres Angebots- oder Aufforderungscharakters, bei einigen Autor*innen auch als selbst wirkmächtig thematisiert (Bennet 2010). Unter der spezifischen Betrachtung digitaler Transformations- und Reformationsmöglichkeiten wird Materialität hier v.a. in ihren verschiedenen Aggregatzuständen zum Untersuchungsgegenstand. Darüber hinaus und z.T. an diese Positionen anschließend treten durch den Begriff der Postdigitalität ökologische, klimapolitische und machttheoretische Fragen, z.B. technischer Infrastrukturen und des Ressourcenverbrauchs wieder stärker in den Vordergrund (Broeckmann 2017).
In der Kulturellen Bildung finden diese Perspektiven ihren Niederschlag neben vereinzelten Ansätzen gegenwärtig v.a. im englischsprachigen Raum. Sie sind zudem in der Unterrichts- und Curriculumsforschung zu verorten und bilden unterrichtspraktische Konsequenzen ab (Hood/Kraehe 2017, Reddington/Price 2018, Rousell/Fell 2018).
Blinde Flecken: Digital Imaginaries
Digitalisierungsdiskurse weisen blinde Flecken auf, die kritisch befragt werden müssen.
Ähnlich wie die Thematisierung komplexer materieller Dimensionen als blinder Fleck des Digitalisierungsdiskurses (vgl. auch Meyer 2009) in der kulturellen Medienbildung gelten kann, sind eine Reihe weiterer Aspekte wenig beleuchtet. Die Künstlerin Tabita Rezaire kritisiert Technologie beispielsweise als immer schon durch Ideologien durchzogen und nie neutral. Sie konturiert in ihren Arbeiten Verflechtungen von Technologie und (Post-)Kolonialismus (Rezaire 2019). Postkoloniale Technologiekritik ist außerdem zentral u.a. in afro-, sino- und golffuturistischer Theoretisierung (Avanessian/Moalemi 2018). Im deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskurs finden sich jedoch wenig Verbindungen zu postkolonialer oder allgemein queerer Theorie des Postdigitalen, die zudem in die kulturelle Medienbildung reichen. Zwar gibt es zahlreiche Ausstellungen, Projekte und Initiativen, es fehlt jedoch eine systematische Befragung von automatisierter Diskriminierung, voreingenommener Daten- oder Designstrukturen und ihrer Effekte. Auch die zuvor aufgeführten Positionen stammen v.a. aus den Globalen Norden und müssen konsequent erweitert werden.
Daneben bleiben zahlreiche weitere Fragen, die hier nicht angeschnitten werden können: Welche Vorstellungswelten und Begehren sind Technologien eingeschrieben bzw. welche bringen diese hervor? Welche Affektstrukturen und kollektiven Vorstellungen bilden sich aus, welche (geistigen) Haltungen und Einstellungen sind grundlegend für das postdigitale Zeitalter (Vermeulen/van den Akker 2010)? Und wie lässt sich Technologie weiterentwickeln und – nicht nur temporär – umnutzen u.a.m.? Die Ebene des Spekulativen, des Andersmöglichen, des Noch-Nicht-Realisierten und Fehlenden, des zunächst Gescheiterten soll hier zum Abschluss mit Digital Imaginaries explizit als Teil postdigitaler Forschung benannt werden, um diese in Zukunft zu erweitern.
Anschlüsse für die Kulturelle Bildung
Zum Abschluss seien die zentralen Ausführungen knapp zusammengefasst und Anschlüsse für die Kulturelle Bildung skizziert: Ausgangspunkt des Beitrags bildete ein Digitalisierungsbegriff, der Digitalisierung nicht primär als technologische Konstante definiert, sondern besonders die Perspektive soziokultureller Verflechtungen digitaler Entwicklungen stärkt. Dieser – qualitativen wie quantitativen – Verschiebung wird durch den Begriff des Postdigitalen Rechnung getragen.
Der Kulturellen Bildung kommen hier in besonderer Weise die Möglichkeit und die Expertise hinsichtlich der Fragen zu, was sich nicht digitalisieren lässt, was sich entzieht, was unverfügbar bleibt. – Allerdings nicht in der naiven Annahme, man könne sich den Bedingungen von Digitalität (dauerhaft) enthalten, sondern in einer Herausarbeitung von Qualitäten, die sich nicht in binären Codes abbilden lassen und zugleich doch durch die Digitalisierung beeinflusst und in Veränderung begriffen sind. So zumindest könnte ein Anspruch an aktuelle Kulturelle Bildung vor dem Hintergrund fortschreitender Digitalisierung formuliert werden.
Um über die begrifflich-diskursive Beschreibung hinauszugehen, wurden im Anschluss an die Begriffsentfaltung des Postdigitalen vier ästhetische Dimensionen in den Blick genommen, an denen sich veränderte postdigitale Bedingungen abzeichnen:
- Künstlerische Praxen, Formen und Formate,
- Subjektkonstellationen,
- Materialität und in Ergänzung
- blinde Flecken digitaler Diskurse, die weiter zu beforschen sind.
Indem Ästhetik hier nicht nur in einem engeren Sinne auf sinnlich Wahrnehmbares reduziert, sondern explizit auch zugrundeliegenden Produktionsbedingungen und die Herstellungsweisen ästhetischer Dimensionen in den Blick genommen wurden, konnten Forschungsfragen für die Kulturelle Bildung aufgeführt werden, die verschiedene strukturelle Faktoren erfassen. Diese – und sicherlich auch weitere Dimensionen – können, so der Vorschlag, in der langfristigen Beobachtung nachhaltig zur Reflektion ästhetischen Handelns für die Kulturelle Bildung im digitalen Zeitalter beitragen.
Über aktuelle künstlerische Positionen wurde dabei exemplarisch deutlich, wie sich postdigitale Kulturen im Einzelfall artikulieren. Sie deuteten an, wie ästhetische Praxis im Zusammenhang mit postdigitaler Kultur nicht nur auf den kompetenten Umgang mit technischen Geräten zielt, sondern auf soziokulturelle Logiken und Bedingungsgefüge reagiert und – noch wichtiger für die Kulturelle Bildung – diese auch aktiv mitgestaltet bzw. auf alternative Weise zu nutzen weiß.