Abbau von sozialen und regionalen Bildungsnachteilen durch Kulturelle Bildung
Teilhabestrategien von Schulen mit kulturellem Schulprofil
Abstract
Schulische und außerschulische Akteure verbinden mit Aktivitäten auf dem Gebiet der Kulturellen Bildung oft die Erwartungshaltung, einen Beitrag für eine gerechte(re) Teilhabe heranwachsender Menschen am gesellschaftlichen und kulturellen Geschehen zu leisten (vgl. Hübner et al. 2017). Dieser Beitrag soll aufzeigen, wie Schulen durch Zugänge der Kulturellen Bildung auf verschiedene Benachteiligungskonstellationen eingehen, mit denen ihre Schülerschaften konfrontiert sind. Dabei werden drei unterschiedliche Benachteiligungshorizonte aufgeworfen: 1. Schulen mit besonderen sozialräumlichen Problemlagen; 2. Förderschulen, die mit Kultureller Bildung den sonderpädagogischen Förderbedarfen ihrer Schülerschaft besser gerecht werden wollen; 3. Schulen in ländlichen Räumen, die mit Kultureller Bildung regionale Bildungsnachteile aufzufangen versuchen. Die angeführten Forschungsbefunde zeigen auf, dass die Behebung von sozialen Benachteiligungen und von regionalen Bildungsnachteilen wichtige Motive sind, mit denen Schulleitungen und Lehrpersonen ihr kulturbezogenes Angebot überformen. Aus Sicht der Schulleitungen und Lehrpersonen stellt die sozialpolitische Funktionalisierung von Kultureller Bildung eine legitime Perspektive dar, die nicht als im Widerspruch zum ästhetischen Eigenwert von Kunsterfahrung stehend gesehen wird. Kulturelle Bildung und kulturelle Schulentwicklung kann als eine Art bildungspolitische Bottom-up-Strategie für Teilhabegerechtigkeit und für sozialen Aufstieg gewertet werden.
Ungleiche Chancen – Forschungsbefunde über Bildungsbenachteiligung im Kontext von Kultureller Bildung
Schulische Bildung in Deutschland findet unter den Bedingungen von sozialer Ungleichheit statt, wobei sich sozialstrukturelle Unterschiede reproduzieren und Ungleichheiten langfristig verfestigen (vgl. Dahrendorf 1965 und Rolff 1967). Das gegliederte deutsche Schulsystem ist von Strukturbarrieren und eingeschränkten Aufstiegschancen geprägt und gewährleistet Durchlässigkeit praktisch nur von oben nach unten, nicht aber von unten nach oben (vgl. Becker/Reimer 2010 und Winkler 2016). Der aktuelle Hochschul-Bildungs-Report 2020 ermittelt, dass von 100 NichtakademikerInnen nur 21 ein Hochschulstudium aufnehmen; Kinder aus Akademikerhaushalten, also mit mindestens einem Elternteil mit Hochschulabschluss, beginnen demgegenüber mit einer 74-prozentigen Wahrscheinlichkeit ein Hochschulstudium. Während 15 Prozent der Nichtakademikerkinder einen Bachelor-, 8 Prozent einen Masterabschluss und 1 Prozent eine Promotion erreichen, haben Kinder aus Akademikerhaushalten eine 63-prozentige Wahrscheinlichkeit auf einen Bachelorabschluss; im Jahr 2014 erreichten 45 Prozent der Akademikerkinder einen Master und 10 Prozent eine Promotion (vgl. Stifterverband für die deutsche Wissenschaft 2018).
Die soziale Herkunft von Heranwachsenden ist auch für ihre Teilhabe an Aktivitäten auf dem Gebiet der Kulturellen Bildung ein entscheidender Faktor. Ein Problem für die Inanspruchnahme von außerschulischen kulturbezogenen Bildungsangeboten ist, „dass Zugänge junger Menschen zu Kultureller Bildung auch sehr stark abhängig sind von Engagement und Finanzstärke des Elternhauses“ (Keuchel 2013:17). Durch die Erhebungen des Jugend-KulturBarometers (vgl. Keuchel 2006 und Keuchel/Larue 2012) wird die „Chancenungleichheit […] in Abhängigkeit vom kulturellen und finanziellen Kapital der Eltern“ (Keuchel 2013:17) greifbar: Durchschnittlich belaufen sich die Bildungsausgaben der Eltern mit geringem Einkommen auf 13 Euro im Monat für Aktivitäten ihrer Kinder auf dem Feld der Kulturellen Bildung; Eltern mit hohem Einkommen geben dafür 39 Euro monatlich aus (vgl. Keuchel 2006:82). Der Rat für Kulturelle Bildung hat 2017 ermittelt, dass Kinder und Jugendliche aus Familien mit geringen Bildungsabschlüssen seltener an außerschulischen Bildungsangeboten teilnehmen, mit 37 Prozent im Gegensatz zu 59 Prozent der Heranwachsenden mit höheren Bildungsabschlüssen (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2017a:8/24). 67 Prozent aller Eltern mit einem niedrigen Haushaltsnettoeinkommen – die Grenze wird bei 2500 € Haushaltnettoeinkommen angesetzt – können ihren Kindern außerschulische kulturelle Angebote gar nicht oder nur sehr eingeschränkt ermöglichen; bei Alleinerziehenden beläuft sich dieser Wert sogar auf 73 Prozent (vgl. ebd.:25). In der Konsequenz halten die Autoren fest, „Schule ist für Kinder aus bildungsfernen Familien oft der einzige Zugang zu Kultureller Bildung“ (ebd.:8). Aus Sicht der Forschung müsse man bildungspolitisch versuchen, Bildungsmaßnahmen sinnvoller zu akzentuieren, um sozialen, aber auch „punktuellen regionalen Benachteiligungen entgegen wirken zu können“ (Keuchel 2013:158).
Bereits aus einer vorhergehenden Studie aus dem Jahr 2015 ist bekannt, dass das kulturelle Interesse von Kindern und Jugendlichen enorm vom Bildungshintergrund ihrer Eltern abhängt: Kinder aus Akademikerhaushalten geben zu 74 Prozent an, dass ihre kulturelle Affinität durch den Einfluss der Eltern bedingt ist; bei Kindern von Eltern mit einfachem bis mittlerem Abschluss liegt dieser Wert bei 33 Prozent (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2015:44). Demgegenüber wird das Potenzial der Schule für die Entwicklung eines kulturbezogenen Interesses von Kindern und Jugendlichen unabhängig vom sozialen Status der Eltern gleich hoch gewichtet: 37 Prozent der Kinder aus Nicht-Akademikerhaushalten und 36 Prozent aus Akademikerhaushalten geben an, dass ihre Lehrerinnen und Lehrer ihr kulturelles Interesse geweckt hätten (vgl. ebd.) – dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass der Schule eine wichtige Rolle bei der Sicherstellung gleichwertiger Teilhabechancen zufällt und dass Schule in der Wahrnehmung heranwachsender Menschen als ein Ort für ästhetische und kulturbezogene Erfahrungen gilt.
Kulturelle Bildung als kompensatorische Strategie gegen soziale Benachteiligung
Kulturelle Bildung entwickelte sich infolge des PISA-Schocks und im Zusammenhang mit den KMK-Empfehlungen sowie der Enquetekommission des Deutschen Bundestags zunehmend zu einem von der deutschen Bildungspolitik und von privaten Stiftungen erschlossenen Handlungsfeld (vgl. Ackermann et al. 2015:22ff.) Im Zuge der Etablierung verschiedener Förderprogramme auf Bundes- und Länderebene erfolgt die Legitimierung entsprechender Angebote häufig unter Zugriff auf einen sozialkompensatorischen Impetus. Beispielsweise beabsichtigt das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung eingerichtete Programm ‚Kultur macht stark‘ dezidiert die außerschulische „Förderung kultureller Bildung für bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche“ (BMBF 2018:6). Auch auf der Ebene der Bundesländer werden Maßnahmen durchgeführt, die im schulischen Bereich „allen Kindern, unabhängig von sozialer Herkunft oder dem Bildungshintergrund der Eltern, einen Zugang zu eigenen künstlerischen Ausdrucksformen ermöglichen und dadurch an eine Teilhabe am kulturellen und damit am gesellschaftlichen Leben heranführen“ (HKM 2015) sollen. Es sei „ein gesellschaftliches Interesse“ (Kammler/Lohmann 2018:7), Kulturelle Bildung „als Weg zur gesellschaftlichen Teilhabe von Schülerinnen und Schülern zu nutzen“ (ebd.).
Während einige bildungspolitische Ansätze unter Kultureller Bildung eine Vermittlung von Kulturkooperationen (vgl. Abs et al. 2017) oder deren Finanzierung verstehen, d. h. Künstlerinnen und Künstler für ihre Projekte in oder mit Schulen finanzieren, verfolgen andere Programme eine dezidiert organisationsentwickelnde Strategie. Die Maßnahme ‚KulturSchule Hessen‘ des Hessischen Kultusministeriums ist (neben anderen wie zum Beispiel in Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg oder im Saarland) vielmehr als ein „Ansatz zur langfristigen Entwicklung von Einzelschulen im Bereich der Kulturellen Bildung“ (Retzar 2017:263) konzipiert. Anstelle einer Beschränkung auf die Bezahlung von „Projektarbeit von Künstlerinnen und Künstlern an den Schulen [steht] vielmehr die Durchdringung von Kultureller Bildung in alle Bereiche des schulischen Alltags“ (Langenfeld/Twiehaus 2018:334) im Fokus. Es ist erklärtes Ziel, eine „Profilbildung an Schulen systematisch zu fördern und zu unterstützen“ (Vogt et al. 2008:38). Das Kulturschul-Konzept fußt dabei auf einem „einzelne Kunstsparten übergreifende[n] Verständnis Kultureller Bildung sowie ein[em] Schulfächer übergreifend[en] Denken“ (Ackermann et al. 2015:41). Ansatzpunkt dieses Programms ist demzufolge zwar nicht ausdrücklich die Förderung von speziell bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen, sondern eine maximale Reichweite von unterschiedlichsten kulturbezogenen Aktivitäten und kreativen Unterrichtsansätzen innerhalb der beteiligten Schulen (vgl. ebd.:35). Gleiche Teilhabechancen werden dadurch gewährleistet, dass das Programm auf alle Schülerinnen und Schüler einer Schule abzielt und nicht nur auf besonders kulturaffine oder solche, die sich ansonsten kostenpflichtige Zusatzangebote oder die private Anschaffung von Instrumenten leisten könnten.
Eine dieser hessischen KulturSchulen ist die Richtsberg-Gesamtschule Marburg (RGS), die im Jahr 1973 in einem Neubaugebiet am Rand der oberhessischen Universitätsstadt Marburg ihren Betrieb als Gesamtschule aufnahm. Durch ihre Lage in einem Stadtteil mit hohem Erneuerungsbedarf, vielen Nationalitäten und einem niedrigen Sozialindex sieht sich die Schule mit teilweise beträchtlichen sozioökonomischen Herausforderungen konfrontiert, die schließlich in die Ausrichtung ihres kulturell-ästhetischen Schulprofils mit eingeflossen sind. Die RGS wird als eine Schule mit einem „starken sozialen Auftrag“ (Ackermann et al. 2015:100) wahrgenommen und versucht, Wege zu finden und Chancen zu eröffnen, um mithilfe Kultureller Praxis „unterschiedliche soziale Hintergründe auszugleichen“ (ebd.). Die Lehrpersonen artikulieren in Interviews ihre Motivation, „die Welt ein bisschen schöner [zu] machen für Kinder, deren Welt überhaupt nicht schön ist (MAR7, 47)“ (zitiert nach Ackermann et al. 2015:100). Im Schulprogramm hält die Richtsbergschule den Anspruch fest, man unterstütze die Schülerinnen und Schüler „unabhängig von ihrer sozialen und kulturellen Herkunft“ (RGS 2015:2), indem man sich auf „die gegenwärtige und zukünftige Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler“ (ebd.) einstelle. Konkret übersetzt die Schule diese Zielstellung dadurch, dass sie Kulturelle Bildung als Breitenkultur statt als Hochkultur inszeniert (vgl. Ackermann et al. 2015:111), um „möglichst viele Berührungspunkte zu den Künsten für alle“ (ebd.) Schülerinnen und Schüler herzustellen, zum Beispiel durch Angebote in den Bereichen Rockmusik, Hip-Hop und durch weitere niedrigschwellige breitenkulturelle Aktivitäten, die im Rahmen frei anwählbarer Kurse zur Verfügung stehen und die attraktive Einladungen zu einer selbsttätigen ästhetischen Auseinandersetzung darstellen. Mit einer lebensweltorientierten Öffnung von Schule bringt das Kollegium der Richtsbergschule seine Bereitschaft zum Ausdruck, „sich auf die jugendkulturellen Interessen ihrer Schüler einzustellen und soziale Nachteile auszugleichen, die ihnen durch ihre soziale Herkunft entstehen“ (ebd.:96). Kulturelle Bildung wird an dieser Schule nicht als Aneignung eines bildungsbürgerlich-hochkulturellen Habitus verstanden, sondern als ein Resonanzraum für das Ausleben von eigenen „kulturellen Vorlieben und Ausdrucksbedürfnissen der Jugendlichen“ (ebd.:101). Die Lehrpersonen investieren bei der Entwicklung und Rahmung von kulturbezogenen Aktivitäten ein großes Vertrauen in die Selbstorganisation der Schülerinnen und Schüler (vgl. ebd.), sodass einige Ganztagsschulangebote von ihnen selbst ausgerichtet werden und professionell ausgestattete Räume fast durchgehend ohne permanente Kontrolle zugänglich sind. Auf diese Weise können die Schüler Schlüsselverantwortung wahrnehmen und sich teure Instrumente zum Üben in der elterlichen Wohnung unkompliziert ausleihen – während andere Schulen teilweise dazu neigen, ihre „Heiligtümer weg[zu]schließen“ (ebd.).
Bei einer ersten Fragebogenerhebung im Kollegium der Richtsbergschule zum Thema Kulturelle Bildung gaben 80 Prozent der Lehrkräfte an, dass die Interessen der Schülerinnen und Schüler bei der Ausgestaltung und Umsetzung des KulturSchul-Profils berücksichtigt und nachgefragt werden (vgl. ebd.:111). Die Kinder und Jugendlichen finden an ihrer Schule „Entfaltungsmöglichkeiten zum selbstorganisierten, freudvollen Lernen“ (Kauer 2018:143) vor. Der Schlüssel für die hohe Zufriedenheit mit dem kulturbezogenen Schulprofil – 93,3 Prozent der Lehrerschaft begrüßt dieses (vgl. Ackermann et al. 2015:99) – liegt in der Richtsberg-Gesamtschule in einer entschiedenen Schülerorientierung begründet, die sowohl im Unterricht wie auch in Wahlpflichtangeboten und in der Offenheit gegenüber „umfassenden Beteiligungsprozessen bei der Schulentwicklung“ (Kauer 2018:143) fußt. Die Richtsbergschule ist eine der bekanntesten Schulen in Deutschland, die mit ihrer teilhabeorientierten Auslegung von Kultureller Bildung Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung adressiert, die sich Erfolgserlebnisse aufgrund negativer gesellschaftlicher und schulischer Vorerfahrungen beinahe nicht mehr selbst zugetraut hätten.
Die bewusste Bezugnahme auf jugendkulturelle Einflüsse, wie sie in der Richtsbergschule erfolgt, ist erstens als motivationaler Türöffner zu schulischem Lernen angelegt: Die Jugendlichen sollen in ihren persönlichen und schulischen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen bestärkt werden, indem sie sich auf einem weniger distinguierten ästhetischen Praxisfeld betätigen können und sich „geistig wie emotional anregen[d]“ (Rittelmeyer 2016:268) in „Zustände[n] von erlebter Freiheit“ (ebd.:274) als produktiv gestaltend erleben können. Zum Zweiten erweist sich die Hinwendung zu jugendkulturellen Szenen als ein sozial integrierender Faktor: Die aktive ästhetische Hinwendung zu einer musikkulturellen, bewegungsorientierten, politischen oder künstlerisch orientierten Jugendkultur ist allgemein nicht an bestimmte Schichtzugehörigkeiten geknüpft (vgl. Maschke 2015:510; vgl. Maschke et al. 2013), sondern zeichnet sich – im Gegensatz zu hochkulturellen Aktivitäten – durch „Offenheit und Durchlässigkeit“ (Maschke 2015:510) sozialer Milieus aus, da sich Heranwachsende quer über die jeweiligen Szenen hinweg nicht auf separate soziale Schichten verteilen. Daher erscheint die Annahme plausibel, dass eine vermehrte Hinwendung zu jugendkulturellen Strömungen einen Beitrag leisten könnte für eine größere soziale Durchmischung des Kulturerlebens Jugendlicher – auch in schulischen Kontexten.
Teilhabeorientierte Konzepte der Kulturellen Bildung in Förderschulen
In der Wahrnehmung von Förderschullehrkräften werden Zugänge der Kulturellen Bildung als besonders geeignet angesehen, um Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen gezielt in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Zwar ist im SBG IX grundsätzlich ein Rechtsanspruch auf Bildung und gesellschaftliche Teilhabe für behinderte Menschen verankert (vgl. Merkt 2010:58), gleichzeitig sind reguläre schulische Angebote im Bereich der Kulturellen Bildung noch immer hauptsächlich an Gymnasien oder Gesamtschulen mit Oberstufe vorzufinden und weniger an Förderschulen, Grundschulen, Hauptschulen und beruflichen Schulen, wie eine Studie mit 2550 Schulleitungen ermittelte (vgl. Weishaupt et al. 2013:72). Gleichwohl nehmen Förderschulen überdurchschnittlich häufig an musisch-künstlerischen Wettbewerben teil (vgl. ebd.:74), was Fragen zur Motivation des Lehrpersonals an Förderschulen auf den Plan ruft. Im Rahmen einer aktuellen Studie über zwei Förderschulen, die am KulturSchul-Programm des Hessischen Kultusministeriums teilnehmen, werden die besonderen Zugänge und Motivationen an Schulen herausgearbeitet, die zum einen den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung und zum anderen den Förderschwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung vertreten (vgl. Ackermann/Retzar 2021). In einer Vorveröffentlichung von Teilergebnissen hat Sigrun Mützlitz bereits darauf aufmerksam gemacht, dass sich bei Förderschullehrkräften der Eindruck einer ,Wahlverwandtschaft‘ zwischen Kultureller Bildung und Förderschulpädagogik rekonstruieren lässt (vgl. Mützlitz 2017). Dieser Begriff lehnt sich auch an bildungspolitische Konzepte der Teilhabegerechtigkeit an, die im Legitimationskontext von Maßnahmen auf dem Gebiet der Kulturellen Bildung immer wieder aktiviert werden (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2017b:13f.).
Der Begriff der Wahlverwandtschaft verweist auf Überlappungen in den pädagogischen Zielstellungen, die in den Überzeugungen von Förderschullehrkräften repräsentiert sind.
- Erstens stellt das Bemühen um eine Entwicklung der Ausdrucksfähigkeit von Heranwachsenden ein zentrales Motiv dar, wobei aufgrund möglicher Einschränkungen der verbalen Artikulationsmöglichkeiten (vgl. Brandstätter 2012:179) eher von Mitteilungsfähigkeit gesprochen werden müsste. Künstlerische und musische Aktivitäten schaffen Anlässe, in denen über ästhetische Wahrnehmungen und Reflexionen schließlich Auseinandersetzungen mit der Umwelt angestoßen werden, die auf das Selbst zurückwirken. Förderschullehrkräfte beobachten, dass Schülerinnen und Schüler mit begrenzten Mitteilungsfähigkeiten „‘sich mit sich selbst anfreunden, sich selbst kennen lernen‘“ (Mützlitz 2017:443), wenn sie in künstlerische Prozesse involviert sind.
- Zweitens spielt die Stärkung von Selbstkonzept und Identität eine erhebliche Rolle: Insbesondere angesichts verbreiteter defizitorientierter Zuschreibungen, die auf die Identitätsentwicklung behinderter Heranwachsender beeinträchtigend zurückwirken (vgl. Hoppe 2012), ermöglichen es positiv besetzte künstlerische und musische Aktivitäten, einen „Zugang zu den eigenen Gefühlen [zu] finden und sich als kompetent [zu] erleben“ (Mützlitz 2017:443). Vielfältige ästhetische Erfahrungen sollten Gelegenheitsräume schaffen, „„den eigenen Geschmack, eigene Vorlieben entwickeln zu können‘“ (ebd.).
- Und drittens stellt eine gewöhnliche öffentliche Präsenz und Repräsentation behinderter Menschen in der Gesellschaft eine weitere dominante Motivation von Lehrkräften dar: Selbsttätige kulturelle Aktivitäten schaffen Anlässe für Aufführungen und Präsentationen, die auch über Schulöffentlichkeiten hinausgehen, sodass behinderte Kinder und Jugendliche „die Möglichkeit [erhalten], ‚gesehen zu werden‘ (AON:75) und ein[en] Wechsel von der Unsichtbarkeit zur Sichtbarkeit“ (Mützlitz 2017:445) zu vollziehen. So sind ebenfalls das Verlassen des schulischen Raums sowie inklusive Kunstprojekte als ein „Baustein zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe“ (Mützlitz 2017:445) zu begreifen.
Mit diesen pädagogischen und gesellschaftspolitischen Zielstellungen kultureller Praxis machen sich Förderschullehrkräfte zu Agenten ihrer Schülerinnen und Schüler, die sich als selbstsichere und selbstbewusste Persönlichkeiten nicht von den diversen Nachteilen entmutigen lassen sollen, die einer gleichberechtigten Teilhabe am sozialen, kulturellen und beruflichen Leben im Weg stehen.
Kulturelle Bildung als Impulsgeber für kulturelle Teilhabe und Identitätsentwicklung in ländlich geprägten Regionen
Die dritte Kategorie von Bildungsnachteilen betrifft die regionale Lage von Lebensräumen und Bildungsangeboten für heranwachsende Menschen. Kinder und Jugendliche in ländlichen Regionen und in besonders peripheren Räumen sind durch erhöhte Mobilitätsanforderungen (vgl. Dieminger/Wiezorek 2013:25) und ein geringeres Kulturangebot (vgl. DOV 2011:34) negativ von einem „Stadt-Land-Gefälle“ (ebd.:7-35) betroffen. Darüber hinaus sind die Barrieren zu höheren Abschlüssen größer, wenn keine wohnortnahen gymnasialen Oberstufen verfügbar sind, und auch mögliche „geringe soziale und ethnische Unterschiede nehmen Schülern Begegnungsmöglichkeiten und Differenzerfahrungen, die Heterogenität als gewöhnlichen gesellschaftlichen Zustand erleben lassen“ (Retzar 2015:35). Demgegenüber stehen allerdings auch besondere Vorteile, die Schulen auf dem Land bieten: eine höhere Anzahl an Sozialkontakten (vgl. Dieminger/Wiezorek 2013:5), eine vermeintlich größere räumliche und emotionale Sicherheit, kurze Kommunikationswege, die Nähe zur Natur, Ruhe und weniger Konkurrenzdruck (vgl. Retzar 2015:37).
Kulturelle Bildung spielt für schulisches Lernen in ländlichen Räumen eine gleichzeitig horizonterweiternde sowie auch eine besonders integrative Rolle. In einer Studie zu Motiven von Lehrpersonen an ländlichen Schulen in Mecklenburg-Vorpommern und Hessen wurde eine ermutigende, auf Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein zielende Bildungserfahrung als ein zentrales Motiv herausgearbeitet: Man wolle „den Schülerinnen und Schülern dabei helfen, ‚über den Tellerrand hinauszuschauen‘, damit sich diese auch in Großstädten und der globalen Welt kompetent und selbstbewusst zurechtfinden“ (ebd.:35). Lehrkräfte interpretieren ihre Rolle auch als Vermittler von Komplexität: Sie sind der Auffassung, „zusätzliche Impulse kultureller und interkultureller Bildung können fehlende Anregungen ausgleichen, die für Schulen in städtischer Lage leichter zugänglich sind“ (ebd.:37). Kulturelle Bildung auf dem Land könne „die Schulen dabei unterstützen, die strukturellen Leerstellen in der Provinz zu überbrücken“ (Naujokat 2018), beispielsweise durch gezielte Kooperationen mit Kunstschaffenden, die die vergleichsweise dünneren institutionellen Rahmenstrukturen auffangen.
Neben solchen kompensatorischen Erwägungen spielen jedoch auch integrative Motive eine starke Rolle für das Kulturerleben auf dem Land. Kulturelle Bildung wird von den Akteuren vor Ort als ein Vehikel für die Weitergabe von lokalen Traditionen und damit zur Stärkung einer regionalen Identität aufgefasst (vgl. Schorn/Wolf 2018). Durch die Auseinandersetzung mit kulturellen Ritualen und die Teilnahme an gemeinschaftsstiftenden Aktivitäten wird der persönliche Bezug der heranwachsenden jungen Menschen mit ihrer Heimatregion sowie ihr Zugehörigkeitsgefühl aufgebaut und verfestigt. Der Brandenburger Kulturhistoriker und Museumsleiter Kenneth Anders kritisiert in diesem Zusammenhang den allgemeinen „gesellschaftlichen Anpassungsdruck“ (Anders 2018:41), seinen peripheren Wohnort zu verlassen, um in größere städtische Zentren überzusiedeln. Seiner Auffassung nach seien Teilhabemöglichkeiten in Deutschland prinzipiell an jedem Ort gegeben, sodass eine „Emanzipation vom Opportunismus des optimalen Wohnortes“ (ebd.:42) Einzug halten sollte. Egal ob in Stadt oder Land – es gehe bei einer teilhabeorientierten Kulturellen Bildung stets um „die Fähigkeit, sich den jeweils eigenen Raum kritisch und gestaltend anzueignen, […] Spielräume zu erkennen, sich in soziale Spannungsfelder zu begeben und in ihnen Verantwortung zu übernehmen, die eigene Umgebung nach ästhetischen Gesichtspunkten zu bewerten und zu verändern, sich auseinandersetzen“ (ebd.) – und hierzu sei ein Verlassen der eigenen Heimatregion nicht erforderlich. Ansichten wie diese markieren einen zunehmenden Perspektivwechsel gegenüber ländlichen Räumen: von einem defizitorientierten Fluchtparadigma hin zu einem emanzipatorischen Aneignungspostulat.
Die Aufrechterhaltung der Bildungs- und Lebensqualität ländlicher Räume durch gezielte Impulse der Kulturellen Bildung setzt der „Ausweitung peripherer Räume“ (Dieminger/Wiezorek 2015:32) ein Haltesignal entgegen. Auch wenn sowohl Bildungspolitik als auch Bildungsforschung die Bedeutung ländlicher und dörflicher Sozialräume oft noch verkennen (vgl. Retzar 2015:37), gelten Schulen in ländlichen Gebieten als wichtige wirtschaftliche und soziale Standortfaktoren sowie als Bezugspunkte des sozialen und kulturellen Geschehens (vgl. Fücker et al. 2008:29), die für die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Lebens und des sozialen Zusammenhalts zentral sein können.
Einordnung und Ausblick
Die an dieser Stelle angeführten Forschungsbefunde zeigen auf, dass die Behebung von sozialen Benachteiligungen und von regionalen Bildungsnachteilen wichtige Motive sind, mit denen einige Schulen ihr kulturbezogenes Angebot überformen. Aus Sicht der Schulleitungen und Lehrpersonen stellt die sozialpolitische Funktionalisierung von Kultureller Bildung eine legitime Perspektive dar, die nicht als im Widerspruch zum ästhetischen Eigenwert von Kunsterfahrung stehend gesehen wird. Bemerkenswert ist die Verschiebung des schulischen Leistungsverständnisses, das im Zusammenhang mit der Akzentuierung von Kultureller Bildung als Profilschwerpunkt bestimmter Schulen steht: Der Verdacht liegt nahe, dass mit einer Hervorhebung von Aspekten der Persönlichkeitsentwicklung letztlich eine Relativierung von Leistungsdruck und damit eine schleichende Aufgabe von Leistungsorientierung in Schulen einhergeht. Dieser Trend wird in der Schulkulturforschung teilweise als ein schulischer „Etikettenschwindel“ (Helsper 2000:43) eingeordnet, wenn Schule ein „Bestandteil des ‚sozialpädagogischen Systems‘ geworden ist, um Jugendliche psychosozial zu stabilisieren“ (ebd.). Nach dieser Lesart wären Schulen mit einem emanzipatorisch-erfahrungsorientierten Ansatz von Kultureller Bildung als Akteure einer sozialpolitischen Kompensationspraxis einzuordnen. Dieser Auffassung würde jedoch eine kritische Schulentwicklungsforschung (vgl. Berkemeyer/Hermstein 2018) widersprechen, die explizit „Bildungspolitik als Sozialpolitik“ (ebd.:14) einordnet. Nach diesem Verständnis kann die von schulischen Akteuren angestrebte psychosoziale Stabilisierung als ein der Leistungserbringung vorgeschalteter Beitrag zur (Wieder-)Herstellung von Leistungsfähigkeit verstanden werden. Oder anders gesagt: An bestimmten Schulen ist „die emotionale und soziale Anerkennungsbedürftigkeit so stark […], dass eine an Nähe orientierte, fürsorgliche professionelle Haltung erst die Grundlage für die Unterrichtsprozesse zu eröffnen vermag“ (Helsper 2008:71f.). Kulturelle Bildung und kulturelle Schulentwicklung wird von einigen Schulen als eine Art bildungspolitische Bottom-up-Strategie für Teilhabegerechtigkeit und für sozialen Aufstieg angewendet, indem sich Lehrkräfte und Schulleitungen als Anwälte der Chancengleichheit ihrer spezifischen Schülerklientel betätigen – und zwar ohne einen entsprechenden expliziten oder implizierten politischen Auftrag, sondern aus eigener Überzeugung und einem kollektiven sozialen Verantwortungsgefühl heraus.
Eine tatsächliche Gefahr dieser Betrachtungsweise besteht darin, aus der konkreten Handlungspraxis dieser endogen teilhabemotivierten Schulen einen normativen Orientierungsrahmen abzuleiten, der ‚Schule‘ insgesamt abverlangt, sich diese Zielstellungen zu eigen zu machen. Um einem solchen Eindruck vorzubeugen, soll an dieser Stelle festgehalten werden: Die betrachteten Schulen haben sich ihr kulturbezogenes Profil selbst gewählt und sie gestalten ihre pädagogische Ordnung aus eigenem Antrieb. Deren Entscheidung wurde nicht getroffen vor dem Hintergrund „dramatisch steigender öffentlicher Erwartungen an Schule“ (Helsper 2000:53). Eine solche Benachteiligungen kompensierende gesellschaftlich-politische Erwartungshaltung würde Schulen auch überfordern, wenngleich ihnen solch eine gesellschaftliche Missstände abfedernde Schulpraxis oft abverlangt wird: „Gefordert wird im Prinzip alles, was […] der allgemeinen Öffentlichkeit als sinnvoll erscheint […], wenn von ihnen verlangt wird, alle denkbaren Wünsche zu erfüllen und daneben auch noch möglichst alle relevanten Übel der Gesellschaft zu beseitigen“ (Oelkers 1995:184). Insofern ist an dieser Stelle hervorzuheben, dass Bildungspolitik durch eine Förderung von Kultureller Bildung an Schulen lediglich einen strukturellen Unterstützungsrahmen setzen kann, in dem Schulen jeweils eine spezifische Profilierung anstreben können oder auch nicht. Ob Schulen dann versuchen, unter Rückgriff auf Kulturelle Bildung soziale oder sozialräumliche Nachteile zu beheben, entscheiden sie vor dem Hintergrund der jeweiligen pädagogischen Überzeugungen in den Kollegien und der lokalen sozialstrukturellen Gegebenheiten eigenständig.